Eingesperrt - Jessica Daniel ermittelt (German Edition)
Sie hatte ihm noch nicht viel erzählt – und auch sonst niemandem –, aber er berichtete ihr, was er so gehört hatte. Manches war relativ wirklichkeitsnah, anderes reine Fantasie. So wurde etwa behauptet, sie hätte Peter Hunt an der Kehle gepackt und gegen die Wand gedrückt oder sie hätte den Tisch umgeworfen und Hunt und Lapham lautstark mit Beschimpfungen überschüttet oder sie hättedie beiden mit einer Gabel aus der Kantine angegriffen. Die ganze Angelegenheit war vollkommen aus dem Ruder gelaufen. Offensichtlich hatten einige Leute geredet und wahrscheinlich machten die Geschichten schon auf allen Polizeiwachen in Manchester die Runde. Dazu kamen noch all die Leute, denen Peter Hunt von dem Vorfall erzählt hatte. Damals hatte sie einfach nicht darüber nachgedacht, aber jetzt war ihr klar, dass so etwas passieren musste.
»Was
haben
Sie denn gehört?«, fragte Jessica.
Garry erzählte ihr die Version, die er gehört hatte, und die in etwa Jessicas eigenen Erinnerungen entsprach. Er musste wirklich eine hervorragende Quelle haben. Immerhin waren nur drei Leute im Raum gewesen. Er hatte seine Informationen weder von ihr noch von Lapham. Und Hunt hatte vielleicht ihm gegenüber ein paar Einzelheiten der Geschichte bestätigt, aber er wäre damit niemals als Erstes zu jemandem wie Garry Ashford gelaufen.
»Ich darf eigentlich nicht darüber reden, Garry«, sagte sie.
»Ich weiß, aber fragen muss ich trotzdem.«
»Was werden Sie schreiben?«
»Ich weiß noch nicht … irgendwas.«
Jessica wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Sie war ja bisher nicht besonders nett zu ihm gewesen. »Diese Sache könnte für mich das Aus bedeuten, das wissen Sie doch, oder?«, rutschte es ihr heraus.
»Wollen Sie mir erzählen, was passiert ist?«
Jessica wusste nicht, was in den letzten Tagen mit ihr los war. Zuerst ihr aggressives Verhalten im Vernehmungsraum, dann die Tränen auf der Toilette und bei ihrem Telefongespräch mit Harry. Der DCI und sie hatten sogar zusammen gelacht, obwohl sie sich früher nie besonders gut mit ihm verstanden hatte. Und jetzt war sie drauf und dran, alles diesem Journalisten zu erzählen, den sie kaum kannte.
Aber als sie einmal angefangen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören zu reden. Er unterbrach sie nicht und stellte auch keine Fragen. Sie schilderte, wie Lapham sie provoziert und Hunt nicht eingegriffen hatte. Sie erzählte ihm auch, dass sie mit den Ermittlungennicht wirklich vorankamen. Dass sie nicht nur im Dunkeln tappten, was den Täter selbst anging, sondern auch seine Vorgehensweise. Sie gestand ihm sogar, dass sie sich wie eine Versagerin vorkam.
Wenn die internen Ermittler sie gehört hätten, hätte sie sich auf einiges gefasst machen können.
Als sie fertig war, entstand eine kurze Pause.
Schließlich sagte Garry: »Das war aber ein bisschen … mehr, als ich erwartet hatte.«
Plötzlich musste sie lachen und er stimmte ein. »Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle«, sagte sie, als ihr Lachen verebbte. »Wenn das rauskommt, bin ich am Ende. Die lassen mich nie wieder in einen Vernehmungsraum.«
»Was soll ich jetzt machen?«
»Ich weiß nicht.«
»Ich habe eine Idee, aber ich brauche Ihre Hilfe.«
»Worum geht’s?«
»Trauen Sie mir?«
»Ich habe wohl keine Wahl.«
Garry sagte, sie solle alles ihm überlassen und unbedingt am folgenden Tag die Zeitung lesen. »Ich glaube, ich finde eine Möglichkeit, es Ihnen und meinem Chef recht zu machen«, sagte er.
Jessica dachte bei sich: Wenn er das fertigbringt, ist er viel klüger, als ich geglaubt habe.
Nachdem Jessica am nächsten Morgen auf ihrem Handy die Website des Herald aufgerufen und sich anschließend auf dem Weg zur Wache die gedruckte Ausgabe gekauft hatte, kam sie zu dem Schluss, dass sie Garry Ashford wirklich unterschätzt hatte. Dieses schmuddelige kleine Genie hatte ihr tatsächlich den Hals gerettet, aber gleichzeitig auch dafür gesorgt, dass ihre Kollegen sie die nächsten paar Wochen auf die Schippe nehmen würden.
Schon die Online-Version des Artikels hatte sie beeindruckt, aber die gedruckte Version war noch besser. Die Schlagzeile hießschlicht »Die Houdini-Jägerin«. Die Bezeichnung »Houdini-Würger« gefiel ihr nicht besonders, aber er hatte sich nun einmal eingebürgert. Garrys Titelstory, die sich noch über zwei weitere Seiten erstreckte, war ein ausführliches Porträt von ihr. Der Artikel war durchweg positiv. Dem Leser wurde versichert, dass sie
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