Einkehr zum toedlichen Frieden
Generation. Dennoch scheint Gudrun etwas mir sehr Verwandtes
zu umgeben. Vermutlich gehört auch sie zur großen Familie der Einzelgänger.
Ich erhebe mich von dem steifen Stuhl, den ich an den Tisch gezogen
habe, und bemerke wie nebenbei: »Ach, kommen Sie doch bitte mit, Gudrun, ich
möchte Ihnen etwas zeigen.«
Fine Mertes verbaler Wasserfall versiegt. Sie steht ebenfalls auf,
wagt es dann aber doch nicht, Gudrun und mir in den Flur zu folgen.
Ich entschuldige mich bei Gudrun in der Küche.
»Das war nur ein Vorwand. Ich wollte Sie gern allein sprechen. Wenn
es hier im Haus irgendetwas gibt, das Sie gern haben wollen oder das Ihnen
gehört, dann sagen Sie es mir bitte. Ich weiß, dass Sie meinen Bruder gut
gekannt und gemocht haben.«
Sie lächelt traurig und sagt dann mit erstaunlich fester und
wohlklingender Stimme: »Wir können uns ruhig duzen, Katja. Schließlich sind wir
fast Cousinen.«
Fast. Ihr Vater und die Ehefrau meines Erzeugers waren Geschwister
gewesen. Wenn Karl Christensen wirklich mein Vater
war. Sollten Fines Andeutungen aber stimmen und Werner Arndt für meine Existenz
verantwortlich sein, dann sind wir sogar Schwestern! Dieses so anheimelnd
klingende Wort ist mir zuvor überhaupt noch nicht in den Sinn gekommen. Ich
schlage die Hand vor den Mund. Ein feines Lächeln breitet sich in Gudruns
Gesicht aus. Die knochigen Kanten, die ihm auf den ersten Blick so viel Härte
verleihen, verschwinden. Jetzt ist sie beinahe schön. Eine echte Mona Lisa,
aber rank und schlank und ohne jegliche Ähnlichkeit mit mir.
»Das ist doch nicht schlimm«, sagt sie. »Ich habe eine Reihe sehr
viel unsympathischerer Verwandte.«
»Ich möchte gern in Ruhe mit dir reden«, sage ich. »Ich weiß doch
gar nichts über Gerd, über meinen Vater, über deinen und all die anderen
sympathischen und unsympathischen Verwandten.«
Als sie nicht antwortet, fürchte ich schon, zu schnell vorgeprescht
zu sein. Sie schaut auf ihre Armbanduhr.
»Um halb fünf muss ich zum Melken«, sagt sie, nickt nach Deutschland
hinüber, öffnet die Tür unter der Spüle und zieht einen Eimer heraus. »Da kann
ich dir noch ein paar Stunden beim Putzen helfen.« Sie lässt Wasser in den
Eimer laufen. »Zum Abendessen kommst du dann zu mir. Es ist das erste Haus
hinter dem Zollhaus, das mit den roten Umrandungen an den Fenstern. Um acht. Da
können wir reden.«
»Ich habe noch nicht gefrühstückt«, werfe ich ein und blicke auf die
unausgepackten Plastiktüten.
»Nimm ein paar Kekse. Die sättigen auch«, erklärt Gudrun resolut,
stellt den vollen Eimer auf den schmutzigen Küchenboden, schreitet zurück ins
Wohnzimmer, klatscht in die Hände und ruft: »Schluss mit dem Kaffeekränzchen.
Jetzt wird geputzt!«
Ich zupfe sie am schwarzen Rüschenärmel.
»Doch nicht in dem schönen Kleid«, flüstere ich.
»Mach dich nicht über mich lustig«, gibt Gudrun mit plötzlicher
Schärfe zurück. »Es ist scheußlich. Aber das Polyester von damals ist
entsetzlich widerstandsfähig. Wenn’s kaputtgeht, kann ich das alte Ding endlich
wegwerfen. Grund genug, für zu putzen.«
Staunend beobachte ich, wie die Frau, die ich beim Hereinkommen als
schüchternes, verhuschtes Mauerblümchen eingeschätzt habe, jetzt das Kommando
übernimmt, wie schnell ihre verweinten Augen wieder klar werden. Natürlich,
beim Entsiffen eines Hauses, in dem sie schon früher für Ordnung gesorgt hat,
ist sie in ihrem Element. Und beim Befehle erteilen. In einer Hauswirtschaftsschule
gäbe sie eine prächtige Lehrerin ab. Fine, Marcel Langer und ich werden von ihr
herumgescheucht, und Linus lässt sich widerstandslos ins fensterlose
Arbeitszimmer einsperren.
»Da wirst du sowieso nie sitzen«, sagt Gudrun zu mir. »Das kannst du
später auch noch ausräumen.«
Mir knurrt der Magen. Aber ich vergreife mich nicht an den
widerlichen Keksen. Essen ist für mich nur im Notfall ein Sättigungsprozess,
ansonsten ein Genuss.
Immerhin habe ich bei dem Notfall vor der Invasion schon den halben
Supermarktkuchen in meinen Kaffee getunkt. Langer hat – soweit ich weiß –
überhaupt noch nichts gegessen. Und dennoch wuchtet er schwere Möbelstücke zur
Seite, schleppt Teppiche auf die Wiese hinter dem Haus, tauscht kaputte
Glühbirnen aus und macht sich sein T-Shirt immer dunkler.
Wir arbeiten sehr harmonisch zusammen, bis Fine plötzlich den
Kleiderschrank im Schlafzimmer öffnet und erklärt, Gerds Klamotten aussortieren
zu wollen.
»Das kann Katja später machen«,
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