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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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mir Fritz. Vorher noch von den Engländern bombardiert. In Amerika unerwünscht, nach Argentinien abgeschoben, von Buenos Aires in den Süden abgeschoben, in die Südspitze Patagoniens.
     
Verstehen Sie etwas von der Welt?
    Ich wusste nun schon fast alles, aber alles, was ich sah, war eine Frau, die ihre Haare hängen ließ, ihren Kopf, ihr Leben.
    Sie leitete das kleine Hospital von Pico Grande, eine der Krankenstationen, die über Patagonien verteilt waren. Sie wurde in Pico Grande gebraucht. Nach ihr würde das Hospital Rural geschlossen werden. Mit ihrem Mario, dem Indianer, den sie bei sich aufgenommen hatte, als er ein Jahr alt war, sprach sie Russisch. Mit den Leuten Spanisch. Mit mir sprach sie Deutsch. Es war ein unendlicher Weg bis hierher, aber selbst in Pico Grande hatte sie noch Angst, entführt zu werden. Ihre Angst war konkret.
    Umso zwingender war ihr Glaube, da sie sich aufzählen konnte, wie oft sie schon der Verfolgung entkommen war. Auf jedem ihrer Kontinente war ihr mindestens einmal nach dem Leben getrachtet worden.
    Die Angst versandete, das Gespräch. Wir schwiegen. Die Welt holte sie an ihrem Ende ein und brachte einmal Kopfweh und einmal den Tod.
    Sie lebte ja nur, weil sie verfolgt wurde, weil sie von den Deutschen nach Deutschland geraubt, von den Engländern ums Haar ans Messer geliefert und von den Amis im Schatten der Freiheitsstatue aufs offene Meer hinausgetrieben, weil -
    auch war sie nie ganz gesund -
    und Heimweh -
    Amerika kam für sie nicht in Frage.
     
    »Kommen Sie wieder!«, sagte sie. Ich ging.
    Jede Personenbeschreibung wäre ein Reisebericht.
     
    Du bist aufs offene Meer hinausgetrieben worden. Die Freiheitsstatue wurde immer kleiner.
    Auf dem Schiff konntest du ausruhen und atmen.
    Das Geld für die Passage, auch das Kopfgeld, das bei der Einreise vorzuweisen war, hattest du in deinem geretteten Pelzmantel. Der erste Nachkriegswinter. Das alte Leben landunter und dein Glaube an Bord, dass ein Tag wie der andere sei, verflüchtigte sich bald wieder an Land.
    Warum zitterst du?
    »Ein gutes Schiff!«, sagte einer deiner Matrosen, die dich hinübergeleiteten. Aber dann kam ein Sturm. Da sagte dein kaum verständlicher Matrose, um dich zu beruhigen (das Schiff arbeitete schwer im Wasser, es schaukelte auf den Wellen, du zittertest), sagte der Matrose mit der Angst im Gesicht: »Ein gutes Schiff. The sea is closed by police, but this good ship!«, und er zeigte auf deine Füße, Galina, und auf den Boden, auf dem sie standen.
    Du warst nicht die Einzige, die ein Leben wie deines führen musste. Es war so gut wie nichts, was du bei dir hattest, als du Ellis Island, die Einwandererinsel, betratest. Deine Sprache (Russisch), deine Sprachen spielten keine Rolle. Es war nicht die richtige darunter, du konntest kaum ein Wort Amerikanisch.
    Für die Nacht wurde dir eine Pritsche zugewiesen. Vorher musstest du dich unter der Aufsicht von zwei Braunbehosten duschen, zusammen mit allen Frauen, die nach Amerika wollten. Deine Habseligkeiten wurden dir abgenommen. Du solltest dir deine Nummer um den Hals hängen. Über Lautsprecher wurde dein Name aufgerufen. Du solltest dich zur Abholung in den Schlafsaal bereitstellen. Da waren etwa zweihundert Betten in dem Raum. Nachts blieb das Licht an. Aber alles andere kam dir doch bekannt vor. Hast du nicht die schönsten Jahre in einem Lager verbracht?
    Am nächsten Tag begannen die Prüfungen. Der erste Versager wurde schon auf das Beiboot getrieben, das alle, die nicht nach Amerika passten, auf das vor Anker liegende Schiff zurückbrachte.
    Da hatte sich doch ein Aussätziger unter euch Einwanderer geschmuggelt. Er konnte die eine, die angefressene Hand notdürftig in einem langen Ärmel verschwinden lassen, aber auch die Nase war schon angefressen. Wie ein Clown war er zurechtgemacht, so wollte er angesehen sein. Eine weiße Salbe, die den Schmerz verdeckte, sollte Schminke vortäuschen. Keiner nahm ihm den Clown ab: ein Clown in Amerika? Woher der stammte? Pfui! hörtest du auf Deutsch im Vorbeigehn. Mit was für einem Schiff war der gekommen? Selbst in der Masse der Männer (er stand auf der Männerseite) fiel diese Nase auf. Ekelerregende Krankheiten hatten keine Chance, an Land zu kommen. Jeder, der ihn sah, wusste, dass für seine ekelerregende Krankheit kein Platz wäre in Amerika. Er kam aus Portugal. Die Nase hatte er sich in Afrika geholt. Seitdem blieb ihm ein Leben im Hinterzimmer. Man ließ ihn nur noch nachts ans Meer. Das war

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