Einsamen
mehr oder weniger die ganze Zeit, aber sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was er gesagt hatte.
Was geschieht mit mir?, dachte sie. Werde ich einen Zusammenbruch erleiden? Oder habe ich bereits einen? Ich habe das Gefühl, eine Fremde zu sein.
»Die Birken haben ausgeschlagen«, sagte sie, um ihm trotz allem zu zeigen, dass sie nicht für alle Zeiten schweigen würde.
»Ja«, sagte Tomas. »Das sieht schön aus. Das Leben geht weiter.«
Tut es das?, dachte sie. Und woher, zum Teufel, kannst du das wissen?
Er meinte es natürlich nicht böse, aber ihr erschien es doch wie Hohn. Zu behaupten, dass irgendetwas weiterging. Es war doch genau umgekehrt, alles hatte sein Ende gefunden. Der Zeitpunkt war zudem äußerst sorgfältig gewählt worden, der Monatswechsel April/Mai war zweifellos die Nabe, um die sich das ganze Jahr in Uppsala drehte. Das Kind war in der Walpurgisnacht gestorben, an dem Tag, an dem man sich vom Winter verabschiedete, den Frühling begrüßte und das Leben wieder willkommen hieß. Der Tag, an dem man von morgens bis abends feierte. Frühstück im Grünen, Mittagessen mit Hering, Abschlussfeier der Abiturienten auf dem Schlosshügel, Sektfrühstück und der ganze Trallala … Gott sei dank, dachte sie, Gott sei Dank hatten wir keine größere Feier geplant. Tomas hatte bis zwölf Uhr Dienst gehabt, dann hatten sie zusammen mit Rickard, Maria und Germund eine einfache Heringsmahlzeit in der Sibyllegatan gehabt. Die anderen waren gegen drei zum Schloss gegangen, sie selbst hatte sich nicht so wohl gefühlt und war daheim geblieben. Tomas war höchstens zwei Stunden fort gewesen, aber als er durch die Tür hereinkam, hatte er leicht nach Zigarre gerochen.
Gegen Abend war es ihr noch schlechter gegangen, um zehn Uhr waren sie ins Krankenhaus gefahren, und da war es bereits zu spät gewesen.
Aber es hätte keine Rolle gespielt, wenn sie früher gekommen wären, das hatte der Arzt ihnen gleich erklärt. Das, was geschehen war, wäre unter allen Umständen geschehen.
Sie hatten keine Schuld. Er sprach es nicht aus, sie sah ihm an, dass es das war, was er meinte.
Schuld?, hatte sie gedacht. Nein, darum ging es nicht. Worum es eigentlich ging, war unklar, aber nicht um Schuld. Glaubte der Arzt etwa, sie hätte zum Frühstück Bier und Wein getrunken und müsste jetzt getröstet werden, um sich nicht selbst Vorwürfe zu machen? Sie hatte nicht einen Tropfen getrunken.
Tomas half ihr die Treppen hinauf. Am Türknauf hing ein Blumenstrauß. Sie dachte, er könnte von Maria und Germund sein, aber das war er nicht. Natürlich nicht, Tomas hatte auch das arrangiert.
»Bist du müde?«
Sie nickte. Sie konnte auch ebensogut so tun, als ob sie schlafen wollte. Sie würden an diesem Tag sowieso nicht wieder zueinander finden. Sie würde ihn nur traurig machen. Ihn in ihre eigene Hoffnungslosigkeit hinunterziehen. Es war besser, im Bett zu liegen und die Decke über alles zu zie-
hen.
Wie verdammt zerbrechlich das Leben doch ist, dachte sie. Das betrifft nicht nur Lussan, das betrifft alles.
Sie hatten sie Lussan genannt, als hätten sie von Anfang an gewusst, dass es sich um ein Mädchen handelte. Sie konnte nicht sagen, woher der Name kam, aber jetzt war Lussan tot, und man brauchte sich keine Gedanken mehr darüber zu machen. Es hatte sie nie gegeben, und folglich brauchte sie auch keinen wie auch immer gearteten Namen.
Strafe?, kam ihr in den Sinn, nachdem Tomas sie ins Bett gebracht hatte und fortgegangen war, um etwas Saft, Obst, und was man sonst noch so brauchte, einzukaufen. Oder nur, weil er für eine Weile allein sein musste. War es Strafe, um die es sich hier handelte?
Warum nicht? Es war nicht einmal ein Jahr her, seit sie mit Lennart Martinsson Schluss gemacht hatte, und jetzt hatte sie zwei Leben auf dem Gewissen. Seines und Lussans.
Diesen Gedanken konnte sie mit niemandem teilen. Und schon gar nicht mit Tomas, er war für so etwas viel zu rational und klug. Aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es da irgendwie eine dunkle Verbindung gab.
Zwischen dem, was man tat, und dem, was einen ereilte.
Und es gab niemanden, an den sie sich wenden konnte. Niemanden, mit dem sie hätte reden können, und keine Gnade.
Es war, als versänke sie im Morast.
Ich werde untergehen, dachte sie. Das hier werde ich nicht schaffen.
Eine Woche später ging sie zu einem Psychiater. Er hieß Werngren, war in den Sechzigern und trug ein gelbes Polohemd. Sie nahm an, dass die Farbe aufmunternd
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