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Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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es lieber und kauf dir was zu essen. Sicher
hast du etliche Talente, aber Tanzen gehört definitiv nicht dazu. Tut mir leid,
wenn das jetzt hart klingt, aber es ist ehrlich und zu deinem Besten.«
    Johnny hatte lange zu Gott gebetet. Was war, wenn es den,
zu dem er da betete, gar nicht gab?
    Nein, ohne Gott schien ihm das Leben unerträglich. Gott existierte,
einfach schon deshalb, weil er notwendig war. Sobald er dies aber dachte, begriff
Johnny, daß er einem menschlichen Bedürfnis hinterherdachte. Was, wenn Gott nur
existierte, weil er gebraucht wurde? Existierte er auch für jemanden, der ihn
nicht nötig hatte? Es gab offensichtlich Menschen, die ohne ihn zurechtkamen.
Würden die wirklich nach dem Tod in die Hölle stürzen? Oder wäre ihr Leben dann
einfach nur beendet, für immer? Auch, wenn sie in ihrem gottlosen Leben
niemandem etwas zuleide getan hatten? Wenn sie gelebt hatten, als gäbe es einen
Gott, aber ohne Bewußtsein seiner Existenz? Johnny zitterte. Warum war
ausgerechnet seine Kirche die einzig wahre? Die anderen Kirchen und Religionen
behaupteten das doch auch. Alle verehrten einen, ihren Gott – und sollten doch
in der großen Mehrzahl zur Hölle fahren? Was war das für ein Gott, der nicht
deutlich, durch klare Zeichen, erklärte, welche Fraktion er bevorzugte. Er
hätte seinen Vater fragen können, der hätte sicher auf alles eine Antwort
gewußt. Wie er immer auf alles eine Antwort gewußt hatte. Eigentlich war es
Johnny schon lange seltsam vorgekommen, daß sein Vater so viel wußte. Warum
spielte er dann nicht mal bei Wer wird Millionär mit, um die Kirchenkasse mit Geld zu
füllen? Das war die einzige nichtreligiöse Sendung, die zu Hause manchmal
geguckt wurde. Und sein Vater hatte mit seinen Antworten oft nicht richtig
gelegen. Natürlich, er war spezialisiert auf Gott, irdische Themen fand er
banal. Johnny hatte auf sein Geheiß hin nach dem Hauptschulabschluß eine
Schreinerlehre begonnen. Das sei ein bodenständiges Handwerk. Er habe zwar
wenig Grips, aber geschickte Hände, damit könne er eine Familie immer
durchbringen. Hatte sein Vater gesagt. Und es sicher gut gemeint.
    Johnny spürte eine Verhärtung, als er an Swentja dachte. Konnte
nicht einschlafen. Zuviele Gedanken strömten auf ihn ein. Er legte Hand an
sich. Sollten seine Eltern sagen, was sie wollten, es konnte nicht schlimm
sein, dieses Gift, das ihn so sehr quälte, abzuzapfen, loszuwerden. Es würde
davon sicher noch genügend übrig sein, wenn es denn jemals den heiligen Zweck
der Zeugung erfüllen sollte.

19
    Sibylle hatte auf der Schulter eine schüchterne Ratte
namens Chrissie hocken, die ihr, wenn sie Angst bekam, unter den Pullover
kroch. Sibylle fror selbst im Sommer, und wenn sie schwitzte, umgab sie ein
leichter Benzingeruch, was sich niemand erklären konnte, aber viele mochten das
und fanden es schade, daß sie damit nicht im Fernsehen auftreten könne. Aus
ihrem schwarzen Haar stand ein Pferdeschwänzchen ab, sie trug ein Lippen- und
ein Nasenpiercing, eine Buddy-Holly-Hornbrille und schwere
Fallschirmspringerstiefel. Des weiteren schwarze Strumpfhosen mit etlichen
Laufmaschen und einen kurzen schwarz-roten Schottenrock. Und eine Motorradjacke
mit etlichen Anti-Nazi-Buttons. Hübsch war sie nur bedingt.
    Holger, dieser auf fiese Weise interessant aussehende Typ, hatte bei
Kaisers einen Kasten Oettinger gekauft und den Nachmittag in ein Fest
verwandelt. Sibylle wurde schnell betrunken. Am späten Abend, als es kaum noch
Kontrollen gab, bestieg die Truppe die U-Bahn Richtung Alt-Mariendorf, dort
stand ein aufgegebenes Haus fast ohne intakte Fenster, das seit Wochen ihr
Unterschlupf war. Sie hatten es sich, so gut es ging, wohnlich gemacht,
Matratzen vom Sperrmüll besorgt, es gab Kerzen und einen Campinggaskocher.
Strom und fließend Wasser wären zu schön gewesen, beides gab es nicht, aber
Schlafsäcke lagen rum, außen versifft, innen sehr gemütlich. Sibylle kämpfte
gegen ihren Würgereiz an, sie hatte zuviel Bier getrunken und mußte ständig
furzen. Mit sechzehn war sie von zu Hause weggelaufen, hatte seither fast ein
Jahr auf der Straße zugebracht. Der Winter war überraschend hart gewesen. Hätte
es nicht die Möglichkeit gegeben, hin und wieder bei bürgerlichen Autonomen auf
deren Fußböden zu nächtigen, wäre sie ernsthaft in Lebensgefahr geraten.
Manchmal, wenn ihr der rettende Weg in eine Spelunke der Innenstadt zu weit
erschien, war sie in eine der Schrebergartenhütten zwischen Wannsee

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