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Einstein, Orpheus und andere

Einstein, Orpheus und andere

Titel: Einstein, Orpheus und andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel R. Delany
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die Schatten hinter mir herkam. Pfeifend.

 
5.
     
    Es gibt hier nichts außer Verrückten; und wenige sind es, die diese Welt kennen und wissen, daß jener, der nach der Weise der anderen zu handeln versucht, niemals etwas erreicht, denn Menschen haben nie die gleichen Meinungen. Diese wissen nicht, daß jene, die man am Tag für weise hält, niemalen des Nachts für töricht gehalten werden.
    Niccolo Machiavelli / Brief an Francesco Vittori
     
    Erfahrung enthüllt ihm in jedem Objekt, in jedem Ereignis die Gegenwart von etwas anderem.
    Jean-Paul Sartre / Saint Genet – comédien et martyr
     
    Ich hielt an. Das Geräusch von dürrem Laub unter Füßen, Farnwedel an einer Schulter, näherte sich mir von hinten, erstarb. Der Kamm des Hügels war grau geworden.
    »Lobey?«
    »Hast du deine Meinung geändert und kommst mit?«
    Ein Seufzer. »Ja.«
    »Dann komm weiter.« Wir begannen zu gehen. »Warum?«
    »Etwas ist geschehen.«
    Dorik sagte nicht, was geschehen war. Ich fragte ihn nicht danach.
    »Dorik«, sagte ich ein wenig später, »ich empfinde dir gegenüber etwas, das dem Haß sehr verwandt ist. Es ist dem Haß so nahe wie das, was ich für Friza empfand, der Liebe nahe war.«
    »Keins von beidem ist nahe genug, daß man sich jetzt darüber Sorgen machen müßte. Du bist zu egozentrisch, Lobey. Ich hoffe, du wirst erwachsen.«
    »Und du wirst mir zeigen, wie man’s macht?« fragte ich. »Im Dunkeln?«
    »Ich bin gerade dabei, es dir zu zeigen.«
    Während wir gingen, leckte der Morgen scharlachrot herauf. Im Licht wurden meine Augen überraschend schwer, Steine wuchsen in meinem Kopf. »Du hast die ganze Nacht gearbeitet«, bot ich an. »Und ich habe auch nur ein paar Stunden Schlaf gehabt. Warum legen wir uns nicht ein paar Stunden aufs Ohr?«
    »Warte, bis es hell genug ist, damit du sicher bist, daß ich da bin.«
    Das war eine komische Antwort. Dorik ging jetzt als grauer Schatten neben mir.
    Als im Osten genug Rot stand und der übrige Himmel endlich blau war, suchte ich nach einer Stelle, um mich hinzuhauen. Ich war erschöpft, und immer wenn ich zur Sonne hinsah, verschwamm die Welt hinter Tränen der Müdigkeit.
    »Hier«, sagte Dorik. Wir hatten eine kleine Steinhöhle am Fuß der Klippe erreicht. Ich ließ mich hineinfallen. Dorik ebenfalls. Wir lagen mit der Klinge zwischen uns. Ich erinnerte mich an einen Augenblick voll goldenem Licht über dem Arm und dem Rücken, die mir zugewendet waren, bevor ich einschlief.
    Ich griff nach der Hand, die mein Gesicht berührte, hielt sie so fest, daß ich unter ihr die Augen öffnen konnte. Die Lider klappten auf.
    »Dorik?«
    Nativia starrte mich von oben herab an.
    Meine Finger verschränkten sich mit den ihren, schaukelten mit ihren Schwimmhäuten. Sie sah furchtsam aus, und ihr Atem, der durch die gespreizten Lippen kam, schnitt mir den Atem ab.
    »Easy!« rief sie den Abhang hinauf. »Little Jon! Hier ist er!«
    Ich setzte mich auf. »Wo ist Dorik hingegangen …?«
    Easy kam in langen Sprüngen in Sicht, und Little Jon rannte hinter ihm her.
    »La Dire«, keuchte Easy. »La Dire will mit dir reden … bevor du fortgehst. Sie und Lo Hawk haben mit dir zu reden.«
    »He, hat einer von euch Le Dorik hier irgendwo gesehen? Komisch, so einfach wegzurennen …«
    Dann sah ich diesen Gesichtsausdruck in Little Jons kleinen Zügen ausbrechen, es war wie Verwerfungen in schwarzem Fels. »Le Dorik ist tot«, sagte Little Jon. »Deshalb wollte sie dir was sagen.«
    »Was?«
    »Vor Sonnenaufgang, mitten im Käfig«, sagte Easy. »Er lag neben dem Grab für meinen Bruder Whitey. Erinnerst du dich an meinen Bruder …?«
    »Ja doch, ja«, sagte ich. »Ich habe beim Graben mitgeholfen. – Vor Sonnenaufgang? Das ist unmöglich. Die Sonne war aufgegangen, als wir uns schlafen legten, hier an dieser Stelle.« Dann sagte ich: »Tod?«
    Little Jon nickte. »Wie Friza. Auf die gleiche Art. Das sagt wenigstens La Dire.«
    Ich stand auf, klammerte mich fest an meine Machete. »Aber das ist unmöglich!« (Jemand sagte: »Warte, bis es hell genug ist, damit du sicher bist, daß ich da bin.«) »Le Dorik war bei mir, nach Sonnenaufgang. Dann haben wir uns hier zum Schlafen hingelegt.«
    »Du hast mit Le Dorik geschlafen, nachdem er tot war?« fragte Nativia erstaunt.
    Ich kehrte verwirrt ins Dorf zurück. La Dire und Lo Hawk kamen mir bis an die Quellenhöhle entgegen. Wir redeten ein bißchen miteinander; ich sah, daß sie tief über Dinge nachdachten, die ich nicht

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