Einundzwanzigster Juli
Gefangene und in meinen Augen fast schwindelerregend hübsch, nehmen Anna und mich sofort mit in ihr Zimmer, um unsere Sachen zu inspizieren und uns auszuhelfen.
»Dieses Fetzchen können wir getrost zum Putzen nehmen«, erklärt Emilia und zieht mit spitzen Fingern eine vergilbte, zerknitterte Sommerbluse aus meinem Koffer.
Ich sage nichts. Mit einem einzigen wilden Griff reiße ich ihr die Bluse aus der Hand und verstecke sie hinter meinem Rücken.
»Das ist Tante Lexis Bluse«, sagt Anna leise und ohne jemanden anzusehen, und meine großzügigen älteren Kusinen habenplötzlich fragende, erschrockene Augen. Als würde ihnen erst jetzt bewusst, dass Anna und mich mehr von ihnen trennt als die Garderobe.
Mein Brief an Vater wird wohl als Tagebuch enden. Doch unbeirrt versehe ich alles, was ich hinzuschreibe, mit einem jeweils neuen Abschiedsgruß – als ob Lexi jeden Augenblick vorbeikommen könnte, um den wachsenden Stoß Papier mitzunehmen.
Es gibt aber auch viel zu berichten, seit wir in Buchenwald sind! Angefangen bei den Aufseherinnen: Aus der Pattke sind ein Fräulein Nocke und ein Fräulein Raffold geworden. Eine ist dünn und nervös, die andere dick, laut und unbekümmert, und beide spazieren nach Belieben bei uns ein und aus. Sie und die zwei Untersturmführer wohnen in einem eigenen Trakt am Ende der Baracke. Morgens lassen sie als Erstes ihren Hund in den Gang, wo er einen großen gelben Haufen absetzt. Man fragt sich, was er wohl zu fressen bekommt.
Ich erzähle vom Besuch eines Beamten des Reichssicherheitshauptamtes, der viel alte Post für uns mitbrachte – datiert vom Januar, offenbar haben sie sich schon in Stutthof nicht mehr bemüht, sie zuzustellen. Feys Mutter schreibt, sie habe alle vierzehn Tage den erlaubten Brief geschickt. Selbstredend hat Fey außer diesem letzten keinen bekommen.
Ich erzähle von unseren Zahnarztbesuchen. »Eine bestens ausgestattete Praxis im SS-Bereich, im Wartezimmer lauter vornehme Häftlinge in Trachtenkleidung!«, hatte Nanni entzückt berichtet, nachdem sie mit der zahnwehgeplagten Maria dort gewesen war. »Das müssen Wittelsbacher gewesen sein!«
Worauf auch wir anderen uns sofort beim Zahnarzt anmeldeten in der Hoffnung, dabei einen Blick auf eines der ältesten Adelsgeschlechter oder andere der vielen, vielen Prominenten werfen zu können, die angeblich hier sein sollen. Allerdings bekamen Mutter und ich bei unserem Termin außer einem sehr höflichen Zahnarztnur einen einzigen, traurig blickenden älteren Patienten zu Gesicht, der den Hut zog und »Hoepner« murmelte. Erst später ging uns auf, dass es sich um einen Bruder des Generals gleichen Namens gehandelt haben könnte, von dem ich nach dem ersten Verschwörerprozess in der Zeitung gelesen hatte.
Auch von einem anderen Prozess haben wir erfahren müssen. »... zwei Stunden nach dem Urteilsspruch vollstreckt«, hörte ich Frau von Hammerstein im Flur zu Fey sagen, »und dabei muss er alle noch so beeindruckt haben mit seiner Haltung. So bestimmt und selbstbewusst, erzählt man, dass man nicht mehr wusste, wer Angeklagter und wer Kläger ist ...«
Vor meinen Augen erfuhr Fey, die voller Hoffnung gewesen war, noch am Tag unserer Ankunft von der Hinrichtung ihres Vaters. Frau vom Hammerstein, eine Freundin ihrer Mutter, war erst im Dezember verhaftet worden und kannte alle Details.
»Körperlich misshandelt scheint man ihn gottlob nicht zu haben«, meinte sie, während ich entsetzt ins Zimmer floh. Später sah ich Tante Ilselotte zu Fey hineingehen und fest die Tür hinter sich schließen.
Ich erzähle Vater von den Geräuschen hinter der Mauer, den Hunderten von Holzpantoffeln, die jeden Morgen und jeden Abend vorbeiklappern: Häftlinge auf dem Weg in den Steinbruch. Früher hätten sie selbstverständlich auch in der Fabrik gearbeitet, verrät Fräulein Nocke bereitwillig, aber die sei ja nun leider kaputt.
Manchmal trägt der Wind Schreie hinüber und die Kommandorufe des Appells. Manchmal hören wir eine Musikkapelle Marschlieder spielen.
Von dem Gestank erzähle ich Vater nichts. Ich bringe es nicht fertig aufzuschreiben, was er bedeutet. Was sich beißend auf uns niedersenkt, kommt aus dem Schornstein des Krematoriums. Mehrere Hundert Gefangene sollen jeden Tag im Lager zu Tode kommen – verhungert, erschossen oder an Typhus und Ruhr gestorben.
Dabei hätten die anderen mir in Stutthof noch viel mehr erzählen können. Sie haben es von den russischen Häftlingen erfahren, die das
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