Einundzwanzigster Juli
Vermehren. Fräulein Vermehren war in BerlinSängerin, Schauspielerin und Kabarettistin und hat eine Ziehharmonika, mit der sie uns ein Wunschkonzert gibt. Ihr Bruder, Diplomat in Ankara, ist mit seiner Frau zu den Briten übergelaufen.
»Ich wusste gar nicht«, sage ich zu Julius, »wie viele verschiedene Sippenhäftlinge es gibt und dass manche schon seit Jahren in Haft sind.«
»Wenn die SS ihre sämtlichen Sippenhäftlinge, Schutzhäftlinge, Ehrenhäftlinge und Sonderhäftlinge zusammenzöge, wären wir eine ziemlich große Truppe«, stimmt er zu.
Aber warum sollten sie das tun? »Die werden«, murmelt Onkel Teddy, »uns so kurz vor der Befreiung doch nicht noch einmal verlegen!«
Ob es daran liegt, dass wir ständig auf Mauern starren? Meine Ohren sind geschärft wie nie. Jedes noch so kleine Geräusch lässt mich aufhorchen, erkennen, kombinieren.
Nächtliches Hundegebell: Wieder versucht jemand zu fliehen. Die Versuche häufen sich, auch die Häftlinge spüren die Nähe der Befreier.
Lastwagen verlassen das Gelände: Was bringt die SS da wohl in Sicherheit? Die Wagen fahren polternd an uns vorbei; ich zähle sieben, acht, neun und sie kehren nicht zurück.
Im Trakt der Aufseher wird geheult: Die Nocke wird wissen, dass sie allen Grund dazu hat!
Im Zimmer nebenan geht jemand auf und ab: Max raucht Kette und hadert. Mit sich, dass er Lexi die Versuchsfliegerei nicht verboten hat, mit ihr, dass sie je einen Führerschein für irgendetwas erworben hat, das einen Motor besitzt. Mit ihrer verdammten Technikbegeisterung, mit der überhaupt alles angefangen hat, und mit der Luftwaffe, die so unverfroren war, sie als Ingenieurin für die Rüstung anzufordern, nachdem sie sich bereits zu den Sanitätsfliegern gemeldet und eine Ausbildung zur Rotkreuzschwester gemacht hatte!
Niemand ist jetzt noch mit einem Kleinflugzeug in Deutschland unterwegs, fürchtet Max – niemand außer meiner Tante, den Generälen und Kommandierenden der Wehrmacht und vielleicht einigen Nazi-Größen, die sich heimlich aus dem Staub machen. Die amerikanischen Jäger sind überall, jederzeit können sie am Himmel auftauchen und werden, malt sich mein Onkel aus, »in jedem Flieger den verdammten Göring vermuten«.
»Du kennst Max«, beruhigt mich Mutter, »er hat viel Fantasie!«
Tatsächlich scheint es in meinem Kopf eine Sperre zu geben, die mich davor bewahrt, seine Bilder zu sehen: ein fest verschlossenes Tor zwischen meiner eigenen Angst und der Bereitschaft, das Undenkbare zu denken. Doch der Stein, der Max vom Herzen fällt, als nach neun langen Tagen der Storch wieder über unserer Baracke auftaucht, hallt lauter in mir wider als die Luftmine.
»Seht nur, er ist voll besetzt!«, ruft Nanni aufgeregt, während Lexi triumphierend Schleifen zieht. »Das sind die Eltern! Das können nur die Eltern sein!«
Am Nachmittag haben wir Gewissheit: Onkel Jasper und Tante Sofie sind in letzter Minute ausgeflogen. Wäre Lexi nicht gewesen, die alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, die vom Polizeipräsidium zum Reichssicherheitshauptamt, zur Gestapo und zurück gerannt ist, um die beiden mitnehmen zu dürfen, wären sie der Roten Armee in die Hände gefallen.
Ostern. Irgendjemand da oben ist auf unserer Seite! Im Gang der Baracke singen wir das Te Deum und die Nocke und die Raffold stehen verdutzt in der Tür. Begreifen sie, was Onkel Teddy da vorliest?
Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde.
Es ist Ostersonntag und Max war bis eben ein wenig niedergeschlagen, da Lexi ihm bei ihrer Rückkehr berichten musste, dass sie in Würzburg ausgebombt sind. Die schöne Wohnung, seine großeBibliothek, alles, was sie besitzen ... ein Großangriff der Royal Air Force auf eine Stadt, in der es keinerlei Industrie oder kriegswichtige Anlagen gab, nur viele alte Fachwerkhäuser, die brannten wie Zunder.
Lexi nimmt es leicht, meint Max, jetzt kann sie sich ganz auf die Hilfe für uns konzentrieren. »Gott sei Dank war sie an dem Tag in Berlin!«, sagt er und singt aus tiefstem Herzen.
Es ist Ostersonntag und Nanni hält die Hand ihrer Mutter. Am Karfreitag kam Tante Sofie allein durchs Tor, aufrecht und lächelnd mit ihrem kleinen Koffer. Onkel Jasper ist bei Lexi in einer Offiziersbaracke auf dem Flugplatz Nohra. Aus gesundheitlichen Gründen aus der Sippenhaft entlassen – er darf nach Hause!
Es ist Ostersonntag, Max darf Lexi treffen, wenn auch nur für eine Dreiviertelstunde, und nimmt ihr von den
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