Einundzwanzigster Juli
immer unser Ziel ist, er soll uns lebend dort abliefern und ihm reicht, dass er Tante Adele verloren hat. Nun steht ein Sanka bereit, um Onkel Jasper ins Krankenhaus des KZ Sachsenhausen zu fahren. Ihn und Tante Sofie, die zu seiner Pflege abgestellt wird.
Wie schafft sie es, nicht zu weinen? Nanni, Julius und Markus bleiben zurück, ohne zu wissen, ob sie ihre Eltern je wiedersehen. Ich sehe die vier leise miteinander sprechen und sich an den Händen halten, dann verlässt Tante Sofie aufrecht und gefasst den Zug und die Tür des Krankenwagens fällt hinter ihr zu.
Im Waggon ist es ganz still. Onkel Jaspers gequältes Atmen ist verstummt. Wie eisiger Nebel senkt sich diese Stille über uns, und bevor sie in mich hineinkriechen kann, rette ich mich mit einem Sprung ins Freie.
Fey steht schon vor dem Eingang und raucht. »Hörst du das?«, fragt sie mit zitternder Stimme.
Aus einem der Waggons weiter vorn erklingt eine Ziehharmonika, vielstimmig dazu ein sehnsüchtiges altes Lied. Vielleicht ein Dorf, das miteinander unterwegs ist.
»Wie viele fahren wohl in ihren Tod?«, sagt sie leise. »Auf die Häftlinge wartet das nächste KZ. Die Flüchtlinge werden statt in Ostpreußen vielleicht in Thüringen vom Krieg überrollt. Die zum Tode Verurteilten hoffen auf einen Bombenangriff, ihre letzte Chance zu fliehen ...«
Neben uns klettern noch andere aus dem Waggon; stumm stehen wir und lauschen dem Gesang. An den dunkelroten Horizont, den der Donner hinterlassen hat, malen sich die Umrisse unseres Zuges, matt beleuchtet von vielen kleinen, abgedunkelten Laternen.
Mein letzter Brief an Lexi fliegt vor Weimar aus dem Fenster. Ich hoffe, er hat eine bessere Chance als die, die bei Stettin, Angermünde, Eberswalde, Runo, Reidnitz, Rüdnitz, Stargard,Großbeeren und Halle von Bord gegangen sind. Kaum hatten wir einen Bahnhof erreicht, erhielt die Pattke auch schon die Nachricht, dass der vorherige bombardiert oder vom Russen eingenommen worden sei. Als hätte man in unserem Rücken die Landkarte in Brand gesetzt, züngelt der Krieg gierig hinter uns her.
Es ist mir gelungen, alle Briefe abfliegen zu lassen, ohne dass die Pattke es bemerkt hat. Nun kann ich nur noch beten, dass jemand einen findet und aufhebt und mitnimmt und abschickt, obwohl um ihn herum die Welt einstürzt.
Am frühen Morgen des 3. März, fast fünf Wochen nach dem Aufbruch aus Stutthof, nimmt unsere Reise im Viehwaggon ein Ende. Als der Zug hält und die Türen sich öffnen, stehen wir an der Rampe des Konzentrationslagers Buchenwald. Ein einziger großer Schritt aus dem Waggon auf die erhöhte Plattform, die sich über die gesamte Länge des Zuges erstreckt ...
... und der Boden, kaum dass ich ihn unter meinen Füßen spüre, scheint mir wieder entgleiten zu wollen. Mit uns stolpern aus den Waggons, was wir wohl erahnen, nie aber uns hätten vorstellen können: Hunderte und Aberhunderte verdreckter, zerschundener Skelette. Nach wochenlanger Dunkelheit taumeln sie direkt vor die Füße der SS-Mannen und ihrer Hunde, die sofort nach ihnen schnappen. Schimpfen, Gebrüll, Gebell, ein Gestank wie Schwefel und Hölle schlägt uns entgegen. Häftlinge, die noch gehen können, heben hastig diejenigen auf, die an der Rampe zusammenbrechen, und versuchen sie zu stützen.
»Schneller! Auf den Lastwagen!«
Mutter packt mich am Arm und zieht mich mit, Markus steht auf der offenen Ladefläche des LKW und streckt mir die Hand entgegen. Fassungslos lasse ich mich hinaufziehen und überblicke die lange Schlange grauweißer, geisterhafter Wesen, die sich mehr kriechend als gehend aufs Tor zuschleppen. Durch die Waggons huschen bereits die Säuberungskommandos, werfen in atemberaubendem Tempo Tote hinaus und stapeln sie auf Schubkarren.
Der Lastwagen fährt los, zieht vorbei an der elenden Kolonne und ich bin gefangen in einem Körper, der sich nicht mehr bewegen kann. Nur mein Kopf schüttelt sich, wieder und wieder und ganz ohne mein Zutun. Ich wünschte, er würde damit aufhören.
Das Lager ist groß wie eine Stadt. Eine Baracke reiht sich an die nächste; ich sehe einen weiten Appellplatz und ein Backsteinhaus mit einem Schornstein, der eine schwarze Rauchfahne gen Himmel bläst. Im Torbogen zum Häftlingsbereich einen Schriftzug: Jedem das Seine .
Aber wir fahren nicht in den Häftlingsbereich. Wir umfahren gepflegte, sauber gestrichene, wehrhaft eingezäunte Gebäude, die der SS vorbehalten sein müssen, und stoßen ganz in der Nähe auf unser eigenes
Weitere Kostenlose Bücher