Einundzwanzigster Juli
Ziel: das zerbombte Gelände einer ehemaligen Fabrik. Ein Wachmann hakt die Ladeklappe auf und wir springen vom Lastwagen, so schnell wir können; die Rampe gibt das Tempo vor. Zwei Unterscharführer mit nebenstehendem Hund winken uns durch den Durchlass in einer Betonmauer, die oben mit Stacheldraht verstärkt ist.
Dicht zusammengedrängt stehen wir, wieder vereint mit den Ungarn, im wenige Meter breiten Gang zwischen der Mauer und einer lang gestreckten hölzernen Baracke. Unter unseren Schuhen knirscht es; der Boden besteht aus spitzen kleinen Trümmersteinen. »Ihr seid in der Isolierbaracke des KL Buchenwald, kurz: I-Baracke«, sagt einer der Wachmänner gleichgültig. »Ihr bekommt zwei Aufwartemädchen, Verpflegung aus der Lagerküche, einmal pro Woche Kohlen ...«
Lustlos rattert er die Regeln unseres Aufenthalts herunter. Unser Gepäck soll später gebracht werden, teilt er uns zum Schluss mit, dann sperrt er den Durchgang von innen ab und die beiden Wachen marschieren mit ihrem Hund zu einer Tür am Ende der Baracke. Ordentlich treten sie die Stiefel an einer Matte ab, bevor sie im Inneren des Gebäudes verschwinden. Heißt das etwa, sie wohnen hier mit uns?
Unschlüssig stehen wir noch herum, als sich die Barackentür neben uns auf einmal leise und vorsichtig öffnet. Eine junge Frau schaut heraus, dunkelhaarig, Sommersprossen ... und schockartig durchzuckt mich, dass ich sie kenne; ich weiß nicht woher, aber irgendwo habe ich sie ganz sicher schon ...
»Papi!«, schreit sie plötzlich in höchsten Tönen, »Papi, Papi!«, und hinter ihr brechen noch zwei durch die Tür und stürzen mit einem Aufschrei in unsere schreckerstarrte Gruppe, aus der fassungslos Antwort kommt: »Meine Maria! Und Emilia! Und Caspar! «
Wenn ich mir vorstelle, wir wären ohne Onkel Teddy angekommen! In der Isolierbaracke des Lagers Buchenwald findet er an diesem Morgen seine Kinder wieder und es kann keine ganz ungetrübte Freude sein, denn bis jetzt hatte er sie unbehelligt bei Verwandten ihrer verstorbenen Mutter geglaubt. Aber angesichts der vielen, die in diesen Tagen den Anschluss verlieren, muss man wohl froh sein um jeden, den man in seiner Nähe weiß.
Mehr und mehr Leute kommen, durch die Begrüßung angelockt, aus der Baracke. Weitere Freudenschreie: Die beiden Söhne Goerdeler sind hier! Da sind Frau von Hammerstein-Equord mit Tochter und Sohn, das alte Ehepaar Amelie und Fritz Thyssen, da sind die Ehefrau des Generals Lindemann, ein Vetter von Fräulein Gisevius namens Major Schatz, ein Ehepaar Kaiser, ein Ehepaar Mohr, eine Frau Halder, eine Frau Schröder mit drei kleinen Kindern ...
Mir schwirrt der Kopf von Lärm und fremden Gesichtern und ohne recht zu begreifen warum, bin ich plötzlich den Tränen nahe. Am liebsten würde ich Mutter am Ärmel zupfen: »Können wir bitte hineingehen?«
Und über allem hängt dieser grauenvolle Gestank, der uns seit der Rampe begleitet, kratzt im Hals und kriecht unter die Kleider.
Endlich ist der Begrüßungstaumel überstanden. Im Inneren der Baracke warten Zimmer mit Doppelstockbetten und – damit wiruns rasch zu Hause fühlen – auch schon der erste Fliegeralarm. Eine strahlende Emilia steckt den Kopf zur Tür herein: »Hallo, ihr Neuankömmlinge! Luftschutzkeller haben wir leider nicht, stellt euch einfach unter die Türrahmen.«
Neuankömmlinge? Ich bin irritiert. Schön, die anderen mögen vor uns hier gewesen sein. Wir aber sind mit Abstand die größte Gruppe und am längsten zusammen, also kann man doch wohl mit Fug und Recht davon sprechen, dass wir die Buchenwalder unter uns aufnehmen und nicht umgekehrt!
Russische Häftlinge bringen etwas später das Gepäck und es stellt sich heraus, dass man in diesem Lager recht mitteilsam ist. Mit leuchtenden Augen berichten sie, wir wohnten im selben Sonderbau, in dem bereits die Prinzessin Mafalda von Hessen ums Leben gekommen sei! Sie habe während des großen Bombenangriffs auf die Fabrik im Laufgraben neben der Baracke gesessen, als diese getroffen und auseinandergeflogen sei, und zwar leider brennend und direkt in den Graben, aus dem die Prinzessin und der Sozialdemokrat Rudolf Breitscheid anschließend nicht mehr lebend herauskamen.
Viele, viele Prominente seien in diesem Lager, verraten die Häftlinge und betrachten uns neugierig und ein wenig enttäuscht, denn in unseren zerlumpten Kleidern machen wir nicht mehr viel her. Maria und Emilia, Onkel Teddys etwa zwanzigjährige Töchter, erst seit Kurzem
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