Einundzwanzigster Juli
ich meine Tränen und frage: »Wie war’s?«
Meine Briefe hatten nichts damit zu tun. Lexi hat beharrlich herumtelefoniert, nachdem sie feststellen musste, dass wir nicht mehr in Stutthof waren. Endlich gab ihr jemand den Hinweis auf Lauenburg, wo man zwar Nachricht über unseren Weitertransport, nicht aber die Ankunft an irgendeinem Zielort hatte. Man nahm an und teilte Lexi mit, wir seien durch die Rote Armee vom Westen getrennt worden und es sei aussichtslos zu suchen.
»Aussichtslos«, sagt Max ironisch, »ist aber nun gerade kein Wort aus dem Vokabular meiner Frau.«
Ausgestattet mit einer nicht näher bezeichneten, also alle Möglichkeiten offen lassenden Genehmigung desReichssicherheitshauptamtes für einen Sondereinsatz war meine Tante seitdem in jeder freien Minute unterwegs gewesen, um etwas über uns herauszufinden. Den Flug nach Buchenwald hatte sie aufs Geratewohl von Würzburg aus unternommen.
Würzburg? Ich habe richtig gehört. Der Russe steht vor Berlin und die technische Leiterin der Versuchsstelle für Flugsondergerät, Gräfin Lautlitz, hat ihre Dienststelle mit schwerem und leichtem Gerät nebst Sekretärin aus Sicherheitsgründen an ihren Wohnsitz verlegt!
»Nirgends ist es so sicher wie in Würzburg!«, meint Max erleichtert. »Keine Industrie, keine Bomben«, und ich sehe Lexi in ihrem Wohnzimmer sitzen, die riesigen Bücherregale im Rücken und Max’ Plastik neben sich, und etwas wie Heimweh ergreift unerwartet von mir Besitz – wenigstens einen meiner Erinnerungsorte gibt es also noch!
Eine weitere schöne Nachricht heißt Cornelia und ist meine jüngste Kusine. Und auch mit den anderen Kindern hält Lexi Kontakt, meldet sich regelmäßig bei deren Heimleiterin und lässt sich Neuigkeiten berichten.
Doch Julius, Nanni und Markus sind blass geworden. Der Russe kurz vor Berlin ...! Seit Wochen haben wir keinerlei Nachricht von Tante Sofie und Onkel Jasper, aber nach unseren letzten Informationen sollten sie nach Sachsenhausen gebracht werden, ein Lager, das nur einen Sprung von Berlin entfernt ist.
Am nächsten Tag kommt Lexi wieder, Max wird gerufen, doch diesmal treffen sie sich außerhalb des Lagers. Beim Abflug kreist meine Tante mehrmals über der Baracke und unsere ganze Gruppe steht mit Handtüchern und Bettlaken im Gang und winkt. Ich sehe ihr lächelndes Gesicht im Fenster. Sie ist auf dem Weg nach Berlin, Julius’ Eltern suchen.
Für mich bringt Max bei seiner Rückkehr einen kurzen Brief mit, den er mir vorlesen muss, so eilig hat sie ihn in seinem Beisein hingekritzelt:
»Mein liebes Klexchen, habe von deiner Flugpost gehört – du Süße! Wer weiß, vielleicht bekomme ich sie eines Tages, wenn wir alles Schlimme schon fast wieder vergessen haben. Deine Seiten für den Papa nehme ich mit. Bleib mutig und zuversichtlich, lange kann es nicht mehr dauern. Max soll dich fest von mir drücken. Wir sprechen uns nach dem Krieg! Deine Lexi«
Lange kann es nicht mehr dauern – das meint auch Onkel Teddy. Jeden Tag gibt es nun Fliegeralarm, wir hören riesige Geschwader über uns hinwegdröhnen und erfahren von der Nocke später, mit welchem Ziel. Wispernd, haspelnd und flatternd ist die Aufseherin bereits dabei, die Seiten zu wechseln. »Nicht wahr, ich war immer korrekt zu euch«, fleht sie beinahe und was bleibt mir anderes übrig als zu nicken?
Briten und Amerikaner scheinen sich verständigt zu haben, die Lager nicht zu bombardieren, obwohl sie sie aus der Luft deutlich sehen müssten. Ist ihnen nicht klar, wie verzweifelt die Gefangenen auf einen Angriff warten? Die Bomber, die ihnen zur Flucht verhelfen könnten, fliegen vorbei. Nur einmal schlägt ganz in der Nähe eine Luftmine ein; wir halten uns im Türrahmen fest, während die gewaltige Druckwelle vorbeirollt. Türen und Fenster fliegen auf, die Scheiben zerspringen, aber die Lagermauern stehen anschließend so fest wie zuvor.
Die Amerikaner überqueren an mehreren Stellen den Rhein und rücken ins Reichsinnere vor. Das Ruhrgebiet ist gefallen, in Hessen hisst man weiße Fahnen, am Palmsonntag kapituliert Darmstadt. Über dem Lager sirrt Unruhe, sämtliche vier Aufseher unserer Baracke, auch die Frauen, sind jetzt ständig betrunken.
Doch trotz der allgemeinen Auflösung treffen in der Osterwoche weitere Sippenhäftlinge ein: Herr Jehle, dessen Vater, ein Flieger, sich in die Schweiz abgesetzt hat, Frau Gudzent, deren Mann im Nationalkomitee »Freies Deutschland« aktiv ist, Gräfin Plettenberg und Isa
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