Einundzwanzigster Juli
Holz brachten.
»Du warst an dem Tag nicht dabei«, sagt Julius, »du warst bei Tante Almut, als es ihr so schlecht ging.«
»Aber glaubst du das denn?«, frage ich schwach. »Duschen, aus denen kein Wasser, sondern Giftgas kommt?«
Julius zögert. Dann sagt er die schlimmsten Worte, die ich je gehört habe: »Die Juden stehen in langen Schlangen vor dem Waschhaus und werden am anderen Ende tot herausgetragen. Nach Osten gebracht zu werden bedeutet nichts anderes, als ins Gas zu gehen.«
Der Frühling kommt in diesem Jahr schon Mitte März. Auf die Gangseite unserer Baracke wirft die Sonne gegen Mittag einen so breiten Streifen Licht, dass wir alle darin Platz finden: rund vierzig Häftlinge, auf die unsere Gruppe mittlerweile angewachsen ist, die Nocke und die Raffold und der Hund. Einige sitzen auf herausgeschleppten Stühlen und lesen, andere dösen oder unterhalten sich in den Türeingängen sitzend, und es ist dieselbe Sonne für uns und unsere Aufseherinnen und die Häftlinge im Steinbruch und die Schlange vor den Gaskammern im Osten und den Mann, der all dies angeordnet hat.
Dieselbe Sonne, die sich im Fenster eines kleinen Flugzeugs bricht, das wir bestimmt eine Minute brummen hören, bevor es direkt über unseren Köpfen auftaucht, einen huschenden Schatten zwischen Mauer und Baracke wirft und einen Atemzug später gemeinsam mit diesem hinterm Dach verschwindet.
»Das war ein Fieseler Storch«, bemerke ich nicht ohne Stolz zu Julius. »Bin ich letztes Jahr noch geflogen.«
Das Brummen wird leiser, zieht eine Schleife, kommt zurück. »Ich glaube, der sucht was«, meint mein Vetter und wir stehen auf, um den Hals zu recken.
Da ist er! Jetzt kommt er von links und fliegt tief auf die Längsseite unseres Gangs zu, sodass wir ihn schon von Weitem herannahen sehen: die Panoramafenster, die einzelne Gestalt in der Kanzel, die Tragflächen, die plötzlich wie wild zu wackeln beginnen ...
»Ja, ist der denn verrückt geworden?«, schimpft die Raffold. »Der kann doch nicht im Tiefflug über die Baracke ... ! «
Aber da hat mein Denken längst ausgesetzt. Da sind auch andere schon aufgesprungen: Max natürlich und Markus und Ina. Da besteht die Welt nur noch aus einem Wort.
Gefunden! Gefunden! Gefunden!
Die Nocke, die gern so tut, als sei sie mit ihren Gefangenen gut Freund, sagt, ich dürfe an der Tür gucken, wenn mein Onkel zurückkommt, aber nur ganz kurz und ohne auf mich aufmerksam zu machen und selbstverständlich ohne Garantie, meine Tante tatsächlich zu sehen, denn Besucher dürften hier schließlich nicht einfach durchs Lager spazieren!
Die Nocke findet es merkwürdig, dass man Max geholt hat, um Lexi zu treffen. Sie findet es merkwürdig, dass diese überhaupt landen durfte. Ja, je länger sie darüber nachsinnt, desto merkwürdiger findet sie es, dass die Ehefrau eines Gefangenen sich ein Flugzeug der Luftwaffe aus der Garage nehmen und damit nach Herzenslust herumfliegen kann.
»Sie scheint ja ein ganz dickes Tier zu sein, deine Tante«, sagt sie lauernd.
Ich sage nichts. Ich habe das Auge am Schlüsselloch und starre so angestrengt hindurch, dass lila Schlieren vor mir zu schwimmen begonnen haben. »Kannst du schon etwas sehen?«, forscht Fey, die aus Mitfreude mit Max hinter mir ausharrt.
Ich melde: »Noch immer ein kleines Stück Vorplatz und einen Baum.«
»Lass mich mal!«, drängt die Nocke, schiebt mich beiseite und guckt jetzt auch durch das Schlüsselloch.
Fey und ich sehen uns an und prusten beinahe heraus, als die Aufseherin bemerkt: »Da kommt ein Auto.«
Ich tue einen Riesensatz an ihre Seite. »Aha«, äußert sie zufrieden und steht wie eingepflockt, »Fliegeruniform trägt die also!« »Fräulein Nocke, kann ich bitte, bitte, bitte ...«
»Die ist ja nur halb so groß wie er«, übertreibt die Nocke. »Fräulein Nocke«, ruft Fey außer sich, »Sie hatten es Fritzi versprochen! «
»Jetzt küssen sie sich, hehehe!«
Augenblicklich weiß ich, wie man sich fühlt, kurz bevor man jemanden umbringt.
»Fräulein Nocke, bitte !«, schreit Fey.
»Gut, gut«, sagt diese ärgerlich und lässt mich endlich ans Schlüsselloch, aber da sehe ich nur noch Max in ganzer Länge und muss beiseitespringen, um nicht die Tür vor den Kopf zu bekommen. Immerhin tut Max mir den Gefallen, sich noch einmal umzudrehen und zu winken, sodass ich an ihm vorbei nun doch noch sehe und gesehen werde. Lexi winkt Max mit der einen Hand und mir mit der zweiten.
Die Tür ist zu. Tapfer schlucke
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