Einundzwanzigster Juli
dass es nicht hat sein sollen.
Im Flur geht eine Tür, ich höre Schritte näher kommen. Wie erstarrt habe ich auf Lexis Bett gesessen, jetzt springe ich zum Schreibtisch – nur weg mit dem Blatt! Es verstecken, egal wo. Sie wird es nachher finden und sich wundern, aber wissen, dass ich es gelesen habe? Woher sollte sie. Ich werde kein Wort darüber verlieren. Ich werde nur Bescheid wissen von jetzt an.
»Ach Klexchen, wie hübsch!«, sagt sie.
Ich blicke auf von dem Buch, das ich wahllos vom Nachttisch gegriffen habe, irgendwelche Gedichte, und schaue wie geistesabwesend von meinem Bett zur Tür. Da steht sie, blasses Gesicht, müde Augen, fragendes Lächeln, ist die Letzte, die ich an diesem Morgen begrüße, und die Erste, die meine Locken würdigt. Weder Omama noch Ina noch Lore haben ein Wort darüber verloren; ich dachte schon, ich hätte die ganze Nacht umsonst auf den pikenden Wicklern gelegen.
Da steht sie und macht diese winzige Aufwärtsbewegung mit den Armen; ich weiß gar nicht, ob es so gemeint war, aber inderselben Sekunde bin ich schon auf dem Weg, und wenn es nicht so gemeint war, dann ist sie so taktvoll, es nicht zu verraten. Lexi ist keine Kuscheltante, aber vorsichtig streicht sie mir erst über den Rücken, dann übers Haar.
Ich würde auch keine Kinder wollen in diesen Zeiten. Kinder, die auf Minen treten, Kinder, die zwei Jahre fort sind und nichts erzählen. Kellerkinder, Trümmerkinder. Verräterkinder, die einen Menschen auf dem Gewissen haben.
Waren da nicht auch andere Worte in ihrem Brief ...? Süß und aufmerksam findet sie mich, zwischendurch wenigstens, und es macht sie traurig. Weil sie gern helfen würde und nicht weiß wie?
Später, das ahne ich bereits, werde ich mir den Kopf zermartern, warum ich Lexi nicht auf der Stelle, in diesem Augenblick, alles erzählt habe.
Der Moment verstreicht. Ein triumphierender, lang gezogener Laut schiebt ihn beiseite, ein Laut, der von weit her zu kommen scheint, sich aber rasch dem Haus nähert. Es klingt, als drückten ein Dutzend Hände gleichzeitig schon seit dem Dorfeingang auf eine Autohupe.
Ein Dutzend? Ein Dutzend Hände sind es nicht, aber acht. »Hurra!«, wappnet sich Lexi. »Einfall Nelly mit ihrer wilden Horde! Komm, das dürfen wir uns nicht entgehen lassen.«
Guntram, Eckhardt junior, Leopold, Marie: Wie aufgeregte junge Hunde purzeln sie aus Onkel Yps’ Wagen, kaum dass die Tür einen Spalt geöffnet ist, und rennen über den geharkten Kiesweg auf uns zu. Gut, auf mich nicht, mich kennen sie nicht mehr, aber Omama und die Tanten werden frontal gestürmt, schließlich ist nicht für jedes Kind sofort auch ein Paar Arme vorhanden. Mariechen, die Kleinste, bleibt übrig und nimmt mit Omamas Bein vorlieb.
»Aber das ist doch nicht Fritzi ... ?«, ruft Tante Nelly, ein Zweifel, der sie nicht davon abhält, mir einen feuchten Kuss auf die Wange zu drücken. Bis dahin habe ich bescheiden am Rande derTreppe gestanden, der Begrüßungsorgie zugeschaut und mein vertrautes Fremdheitsgefühl ausgekostet. Kaum hast du dich an einen Verwandten gewöhnt, steht bereits der nächste vor dir, es nimmt kein Ende.
Tante Nelly kennenzulernen, dürfte jedoch leicht sein. Die jüngste und lebhafteste meiner drei Lautlitzer Tanten sieht aus wie eine Studentin im ersten Semester: flink und hübsch, mit einem Lächeln fast in der ganzen Breite ihres Gesichts. Überschwänglich streckt sie beide Arme in die Luft: »Herrlich! Wir Schwestern endlich einmal alle beisammen!«, und hüpft zwei Treppenstufen hinab, um Lexi unterzuhaken.
Da hält Onkel Yps, bevor er in den Wagen zurücksteigt, Lexi noch für einen Augenblick am Arm fest. »Sagen wir halb drei?«
»In Ordnung«, antwortet sie und ich sehe den Schatten, der über ihrer beider Gesichter huscht, sehe und verstehe nicht.
Vielleicht ein Vogel, der vorüberflog.
Vier Kinder, das fünfte unterwegs – Tante Nelly muss ein zuversichtlicherer Mensch sein als ich und Lexi. Im Januar soll es so weit sein. Ein Friedenskind, hoffentlich, sagt Omama.
Wir sitzen in Liegestühlen unter der Blutbuche, deren dichtes Dach Schatten spendet, auf der Wiese wechseln sich die Vettern und Kusinen zu sechst mit zwei Federballschlägern ab. »Wartet, bis sie sich wieder besser kennen«, warnt Tante Ina. »Dann geht es nicht mehr so gesittet vonstatten.«
»Ein Friedenskind«, wiederholt Nelly versonnen. »Glaubt ihr daran?«, und ohne zu zögern, erklärt ausgerechnet Lexi laut und bestimmt:
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