Einundzwanzigster Juli
werden muss, um jeden Preis. Die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig. Lass uns an unsere fünfzig Prozent glauben, Lexi.«
»Für Deutschland«, sagt sie mit festerer Stimme.
»Für Deutschland!«, wiederholt Onkel Yps. »Für alle, die nach uns kommen.«
Wie lange sitze ich zwischen den Bäumen? Ich verstecke mich noch, als Lexi und Onkel Yps längst um die nächste Kurve verschwunden sind; einmal noch höre ich ihre Stimmen viel weiter unten auf dem Weg, aber ich verstehe nicht mehr, was sie sagen.
Als ob ich es eben verstanden hätte! Ich sitze auf meinem Baumstumpf, den Schuh in der Hand, und das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich nicht geträumt habe.
Haltet die Augen auf! Habt Acht! Meldet alles, selbst das, was ihr nicht einschätzen könnt – gerade das! Der innere Feind lauert dort, wo ihr es nicht erwartet, es kann euer Bruder sein, eure Mutter, euer Lehrer, euer bester Freund. Jeder Zweifel, jede Verschwendung, jede Verweigerung, jeder scheinbar noch so kleine Betrug an der Volksgemeinschaft kann der Anfang einer Lawine sein, die den Sieg unter sich begräbt. Wollt ihr das verantworten ...?
»Um den äußeren Feind kümmert sich unser Führer, die Bekämpfung der inneren Feinde ist eure Aufgabe!«, hieß es in der Unterweisung.
Ich habe den Finger gehoben: »Was genau ist gemeint mit Verweigerung ?«
»Meine Güte, alles Mögliche!« Ellen sah mich ungeduldig an. »Wenn du für die Winterhilfe oder das Strickopfer sammelst, achte darauf, wer weniger spendet als die anderen. Gibt es Fenster, die nicht verdunkelt sind? Hörst du eine fremde Sprache aus dem Radio? Du musst versuchen, einen Sinn dafür zu entwickeln, was vom Normalen abweicht, dann erklären sich alle Maßnahmen von selbst.«
Erklären. Erklären muss man mir jetzt nichts. Mein Kopf ist voll von dem, was ich nun in Gang setzen müsste, lauter Ausrufungszeichen, keine Fragen. Meine eigene Tante! Mein alter Onkel Yps! Mein Kopf ist voll, es gibt eine Menge zu löschen.
Onkel Yps. Was weiß ich eigentlich von ihm, außer dass er der Ersatzvater meiner drei Onkel ist? Er war der Festungskommandant von Tschudowo, hat im ersten schrecklichen russischen Winter bei fünfzig Grad unter null siebentausend versprengte Soldaten zu Kampfeinheiten gefasst, um den nahezu eingeschlossenen Kessel südöstlich von Leningrad zu verteidigen. Tag und Nacht soll er zwischen Alarmeinheiten und Sicherheitsposten gependelt sein – zu Fuß und zu Pferde, um Sprit zu sparen.
Ein Held, zweifellos. Etwas Unredliches im Schilde führen? Niemals!
Und Lexi? Habe ich es nicht selbst erlebt? Tag und Nacht setzt sie ihr Leben aufs Spiel, um für Deutschland den Luftkrieg herumzureißen. Für Deutschland! Klar und deutlich habe ich sie das eben sagen hören. Und sie hat ja auch allen Grund, sich erkenntlich zu zeigen, nicht wahr? Die deutsche Luftwaffe beschäftigt sie trotz ihrer rassischen Belastung!
Ihre defätistischen Bemerkungen vom Vorabend fallen mir ein. Das wirft kein gutes Licht auf sie, aber ist sie deshalb schon ein innerer Feind? Für Deutschland steht dagegen. Vor Gericht wäre es ein klassischer Fall von Aussage gegen Aussage.
Vor Gericht! Mich überläuft es kalt, als ich das Wort nur denke. Als ob ich allein mit dem Gedanken schon zu weit gegangen wäre. Standgericht haben sie genannt, was sie mit Piotr gemacht haben.
Nein, denke ich, und gleich noch einmal: nein! Verraten werde ich niemanden mehr. Ich habe meine Pflicht getan. Keine acht Wochen ist das her.
Da sitze ich, schiebe mit voller Absicht beiseite, was man mir in zwei Jahren beigebracht hat ... und werde ganz ruhig! Als wäre in meinem Kopf wieder Platz, um zu überlegen.
Wer sagt denn, dass das, was ich gehört habe, etwas Böses bedeutet? Die rätselhaften Andeutungen, die Reden von Todesgefahr ... warum sollten Onkel Yps und Lexi nicht Teil einer Geheimoperation für Deutschland sein? Jemanden hinter der Front absetzen vielleicht, um den Frieden auszuhandeln. Ich habe schon davon reden hören: Anstatt gegen Amerika zu kämpfen, sollte Deutschland lieber mit Amerika zusammen gegen die Russen gehen.
Die Westfront also! Warum nicht? Hochriskante Geheimverhandlungen hinter dem Rücken der Russen! Lexis Mitwirkung ist gescheitert, weil der Fieseler Storch zu langsam ist.
Hätte die Luftwaffe ihr nicht ein schnelleres Flugzeug zur Verfügung gestellt?
Einen Augenblick gerät meine Theorie ins Wanken, dann fällt mir ein: Andere Flugzeuge können ja nicht wie der Storch in jedem
Weitere Kostenlose Bücher