Einundzwanzigster Juli
durchs Dorf – sie grüßen mich zuerst, in ihren Augen bin ich eine vom Schloss. Ich gehe vorbei und spüre, wie sie mir nachschauen.
Den Kopf gesenkt, stürme ich bergan, bis mir der Schweiß vom Nacken in den Rücken perlt. Das hilft immer! Schritt für Schritt, hat uns Ellen erklärt, gerät die Welt beim Marschieren wieder in Ordnung. Du brauchst einen Vordermann, der dich mitzieht, einen Nebenmann, der dich begleitet, Hintermänner, die dir folgen ...
Aber heute, ich hätte es ahnen müssen, bleibt der vertraute Effekt aus, ja, je länger ich auf meine Schritte lausche, desto beklommener wird mir zumute. Ein einzelnes Paar Schritte klingt vollkommen verloren, geradezu lächerlich! Man möchte die Schuhe ausziehen und wegwerfen, damit man es nicht hören muss.
Der würzige Duft von Tannennadeln steigt mir in die Nase. Es ist still im Wald, die Vögel sind um diese Tageszeit verstummt, nursehr weit entfernt, auf der anderen Seite des Berges, scheint jemand Holz zu schlagen. Der Wanderweg ist hart und zersprungen von der Trockenheit der letzten Wochen, aber abseits des Weges versinken meine Schuhe im Laub und decken meine Schritte mit gedämpften Rascheln zu.
Krieg – ein viel zu kurzes Wort für alles, was geschieht! Man wirft Bomben auf Menschen und haust selbst in Trümmern, man versteckt sich, schießt aufeinander, hungert und bestimmt, dass welche gehen müssen; man geht selbst und schneidet sich von allem ab, was von Bedeutung ist. Ich dachte, ich wüsste, was Krieg heißt, aber immer noch kommen jeden Tag Dinge hinzu.
Ob Max mit Lexi in den Osten gegangen wäre? Omama hätte es das Herz gebrochen, wenn ihr Sohn, der Professor für Geschichte, noch einmal ganz von vorn hätte anfangen müssen, mit nichts als einem einzigen Gepäckstück für die Reise. Aber er hätte es getan, da bin ich ganz sicher. Ich hätte ihm auch nicht mehr in die Augen sehen wollen, wenn er Lexi im Stich gelassen hätte.
Ich wünschte, ich wäre ihr nachgelaufen, dann hätte ich nichts erklären müssen. »Nein, es macht mir nichts aus«, hätte das geheißen. »Dass du Halbjüdin bist, ist mir egal.«
Damit wäre die Sache erledigt gewesen. Jetzt müsste ich andere Worte sagen: Es ist mir egal, solange niemand, den ich kenne, davon erfährt.
Und schon, das spüre ich selbst, ist es mir nicht mehr egal, und meine kluge, Gedanken lesende Tante wird es augenblicklich erkennen.
Ich bin steil bergan geklettert, den Wanderweg, der sich den Hang entlangwindet, mehrmals überquerend, nun halte ich außer Atem inne und wende mich um. Zwischen den Zweigen blitzt etwas auf, das wie die Lautlitzer Kirchturmspitze aussieht verlaufen habe ich mich also nicht.
Bei Ypsens werden sie jetzt langsam merken, dass ich nicht mehr komme.
Ich muss eine ganze Weile auf einem der Baumstümpfe gesessen haben, denn als ich Stimmen höre, stelle ich fest, dass mein linker Fuß eingeschlafen ist. Ich ziehe den Schuh ab, um das taube Gefühl wegzumassieren, da kommen die Spaziergänger etwas unterhalb von mir schon in den Blick. Es sind ein Mann und eine Frau, und sie gehen sehr schnell. Sie gehen, als wüssten beide, was Marschieren ist.
»... langsam, viel zu langsam. Wir müssten unterwegs zwischenlanden und tanken, was unmöglich wäre, da er sofort verhaftet werden würde, aber ich habe nun mal kein anderes Flugzeug ...«
Lexi? Verblüfft recke ich den Hals, und während sie und ihr Begleiter sekundenlang hinter Bäumen verschwinden, erkenne ich auch die zweite Stimme.
»Du hast richtig gehandelt. Du musstest es ihm sagen. Alles hängt davon ab, dass er rechtzeitig zurück in Berlin ist.«
»Aber ich fühle mich, als ob ich ihn im Stich ließe. Nun auch ich!«
»Unsinn. Aufrichtig zu sein ist entscheidender, als dein – und sein – Leben unnötig aufs Spiel zu setzen.«
»Ich habe keine Angst vor dem Tod. Wenn ich gefragt werde, bin ich da.«
»Das bezweifelt niemand. Wenn er das nicht wüsste, hätte er dich nicht gefragt – gegen meinen Willen übrigens.«
»Gegen deinen Willen?«
Lexi klingt erschüttert. Sie bleiben stehen, sind jetzt direkt unter mir auf dem Weg. Keine zehn Meter, nur ein paar Bäume liegen zwischen uns.
»Wenn alle Stricke reißen«, erwidert Onkel Yps, »müssen einige von uns übrig bleiben.«
Eine lange Pause entsteht. Ich halte den Atem an. Nicht auszudenken, jetzt entdeckt zu werden ...
»Du glaubst auch nicht mehr daran, nicht wahr?«, sagt Lexi leise.
»Ich glaube ... wir glauben ... dass es versucht
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