Einundzwanzigster Juli
Gelände landen.
Bliebe nur noch eine Frage: Wer mag Er sein, von dem sie gesprochen haben? Ich kann es drehen und wenden, wie ich will: Ich kenne nur einen, von dem man als Er redet.
Ist es möglich ...? Mein Herz klopft einen Trommelwirbel. Lexi sollte den Führer fliegen!
Langsam!, versuche ich mich zu bremsen. Man kann doch nicht den Führer des Großdeutschen Reiches hinter der Front in Gefahr bringen.
Aber ganz abwegig ist es nicht. Dem Führer traue ich das zu. In Oschgau ging sogar die Rede, dass der Führer selbst die Wunderwaffe sei und nicht diese neue Rakete aus Peenemünde.
Wenn ich mir vorstelle, was ich hätte verderben können ...!
Nur kurz durchzuckt mich nun doch eine weitere Frage: ob ich vor lauter Entschlossenheit, den Mund zu halten, nicht die verrückte ste aller Erklärungen gefunden habe! Aber zu spät, da hüpfe ich bereits den Hang hinunter auf den Weg und beginne zu laufen, hüpfe und laufe mit einem Schwung, wie ich ihn schon seit Wochen nicht mehr verspürt habe.
Alles wird gut!, jubelt es in mir, und es jubelt mit einer so tiefen Freude, dass alle Zweifel verstummen.
Der Krieg geht zu Ende!
Diesmal habe ich das Richtige getan!
Sie ist überrascht, kein Wunder. Hat eine erschrockene, ratlose Nichte im Schlossgarten zurückgelassen, hat damit gerechnet, dass es viele Fragen geben wird nach dem, was sie mir erzählt hat. Hat vielleicht sogar geglaubt, dass es gar keine Fragen geben wird, da ich nicht mehr mit ihr rede.
Und jetzt? Sitze ich mit Tante Helma und Tante Josi auf dem Sofa und strahle, als ob nicht das Geringste zwischen uns stünde! Lexi ist so überrascht, dass sie es ist, die nichts zu mir sagt. Sie sitzt schräg gegenüber auf dem zweiten Sofa neben Onkel Yps, trinkt ihre sechste oder siebte Tasse Kaffee an diesem Tag und weder sie noch ich lassen uns anmerken, dass irgendetwas Außergewöhnliches passiert ist.
Dabei ist mein Inneres in Aufruhr. Was eine einzige Person bewirken kann! Ich, ein vierzehnjähriges Jungmädel ... der Krieg wird möglicherweise dadurch entschieden, dass ich nachgedacht habe!
»Du erinnerst mich an deinen Bruder, Fritzi«, sagt Tante Josi warm. »Fabian war so ein fröhlicher Junge ... und eine herrliche Fantasie hatte er, nicht wahr, Helma?«
Sie trägt ihr schwarzes Ordenskleid und auf der Brust eine lange Kette mit einem Holzkreuz, unter dem Schwesternhäubchen blitzen weiße Locken. Aber über Fabian habe ich heute keine Lust zu reden. Heute bin ich die Heldin, auch wenn es niemand weiß!
Am liebsten würde ich rufen, so laut ich kann: »Auf unsere fünfzig Prozent, Lexi! «
S ECHS
In dieser Nacht schlafe ich so gut wie lange nicht mehr. Piotr lässt mich in Ruhe, und auch die Sorge um Mutter schleicht sich nicht in meine Träume. Dass ich sie nach unserer Rückkehr ins Schloss nicht hatte anrufen können, war ja zu erwarten gewesen. Keine Ahnung, wo sie um zwölf, um eins und um zwei steckte, aber um acht Uhr abends ist sie im Keller, wo sonst?
Ich wache nicht einmal auf, als Lexi früh um fünf aufsteht, um mit Onkel Yps auf die Pirsch zu gehen. Dabei wollte ich eigentlich mitkommen, nachdem sie versprochen hatten, an diesem Morgen auf nichts zu schießen. Onkel Yps will ihr nur die Kandidaten für den Herbst zeigen.
Ich bin froh, dass sie mich hat schlafen lassen. Ich fühle mich frisch, gut gelaunt und stark. Ich erkenne mich selbst kaum wieder.
Ganz sachlich haben wir noch auf dem Rückweg von Ypsens darüber gesprochen, ob ich wieder mit nach Berlin fliegen sollte. Lexi versteht mich.
»Ich würde an deiner Stelle auch daran denken«, meinte sie nach kurzer Überlegung. »Aber gehen wir einmal davon aus, dass Almut nichts passiert ist. Sie wäre entsetzt, wenn du jetzt wieder dort auftauchen würdest. Dich hier in Sicherheit zu wissen, lässt sie Berlin viel leichter aushalten.«
Von dieser Seite hatte ich das noch gar nicht betrachtet. »Ich werde sie selbst anrufen, sobald ich morgen ankomme«, nahm sich Lexi vor. »Und wenn ich sie nicht erreiche, gehe ich nachsehen, was los ist. In Ordnung?«
Über all die anderen Dinge haben wir nicht gesprochen. Fast den ganzen Weg gingen wir schweigend nebeneinanderher, aber es warein gutes Schweigen. Ich glaube, Lexi und ich verstehen uns jetzt, ohne zu reden.
»Darf ich dir schreiben?«
Wir stehen vor dem Schlossportal. Omama, Nelly, Ina und ich haben uns mit den Kindern zum Winken versammelt, Onkel Yps’ Wagenmotor läuft, doch ich halte Lexis Hand eisern
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