Einundzwanzigster Juli
Das Wort höre ich zum ersten Mal, aber klingt es nicht unendlich viel besser als das, was wir bis gestern waren?
Philippa Bredemer, Ehrenhäftling. Deshalb also das Hotel! Ich bin so erleichtert, dass ich den Geboten und Verboten, die damit einhergehen, kaum noch Beachtung schenke. Die meisten kenne ich ohnehin: keine Zeitung, kein Radio, kein Kontakt mit Einheimischen oder Bediensteten. Heil Hitler dürfen wir auch nicht mehr sagen, der Deutsche Gruß ist für Verräter tabu.
Das Abendessen kann beginnen, wir sind vollzählig. Sind wir das ...? Unwillkürlich beginne ich zu zählen, ob die frei gebliebenen Plätze an jedem Tisch aus irgendeinem seltsamen Zufall der Zahl derer entsprechen, die den Familien verloren gegangen sind, aber es geht nicht auf, die Verluste am Lautlitzer Tisch sind zu hoch, selbst wenn ich Vater an Mutters Tisch mitzähle.
»Und nichts davon«, flüstert die tückische kleine Stimme in meinem Kopf, »wäre passiert, wenn du Onkel Yps und Lexi aufgehalten hättest!«
Doch die Stimme ist in den letzten Wochen immer leiser geworden. Eigentlich höre ich sie kaum noch. So viele Beteiligte, so viele Mitwisser an so vielen Stellen ... inzwischen bilde ich mir nicht mehr ernstlich ein, dass ich etwas hätte ausrichten können, und ichweiß nicht einmal mehr, ob ich mir noch wünschte, ich hätte es versucht.
An diesem Abend sage ich es mir zum ersten Mal. Es ist kaum mehr als eine Probe, ich bin noch nicht sicher, aber die Worte haben einen überraschend guten Klang.
Ich will nicht mehr auf der anderen Seite stehen nach allem, was ich gehört und gesehen habe.
Z EHN
Die Liste der Verbrechen war lang. Der Angeklagte Magnus von Yffingen hat Georg und Eckhardt von Lautlitz überzeugt, dass ein Komplott gegen den Führer geschmiedet werden müsse, er hat für sie den Kontakt zu anderen Verschwörern hergestellt und sich persönlich an der Ausarbeitung von Konzepten für den Staatsstreich beteiligt. Der Angeklagte Magnus von Yffingen war ein toter Mann, noch bevor er den Gerichtshof von Roland Freisler betreten hatte. Am 14. September hat man ihn hingerichtet.
Max nehme es furchtbar schwer, sagt Julius, und das nicht nur, weil er an seinen Brüdern und Onkel Yps sehr gehangen habe. »Im Gegensatz zu Georg und Eckhardt ist er von Anfang an ein glühender Feind Hitlers gewesen. Er hat sich deshalb sogar mit seinem engsten Freund überworfen – und nun ist er als Einziger nicht an der Tat beteiligt.«
Auch ich versuche jetzt, nur noch Hitler zu denken und nicht Führer. Nur ab und zu rutscht es mir noch heraus, wenn ich nicht aufpasse.
»Zum Glück war Max weit genug weg«, antworte ich mit rauem Hals. Ich habe einen Schal darum gewickelt, den mir Tante Ilselotte geliehen hat, aber es hilft nichts, die Erkältung ist nicht mehr aufzuhalten. Fast alle von uns, die auf dem Güterwagen waren, hat es erwischt; Mutter liegt sogar mit Fieber im Bett.
»Er ist den dritten Tag hier und ich habe ihn noch nicht ein einziges Mal lachen sehen«, sagt Julius betroffen. »So kenne ich ihn gar nicht. Max und Georg lachen immer !«
Julius redet von Georg und Eckhardt, als ob sie noch lebten; vielleicht merkt er es gar nicht. Er rüttelt auch nicht daran, dass das,was die beiden getan haben, richtig war. Behauptet, er habe keinen Augenblick gezweifelt; ja, die Frage habe sich ihm nicht einmal gestellt!
»Wenn du sie gekannt hättest, ginge es dir ebenso«, sagt er. »Was ist mit deinem Vater? Traust du ihm zu, er hätte nicht die besten Motive gehabt?«
Wenn ich das nur wüsste! Ich habe Vater seit Jahren nicht gesehen, wie soll ich wissen, was er gedacht hat? »Vielleicht findest du es ja noch heraus«, meint Julius rätselhaft.
Er legt einen guten Schritt vor, während wir bergan stapfen, und ob ich will oder nicht: Ich muss an einen anderen Berg und die Begegnung mit Lexi und Onkel Yps denken. Die Brücke zwischen mir und dem Unfassbaren; ich stoße immer wieder darauf. »Hättest du es zu verhindern versucht, wenn du davon erfahren hättest?«, frage ich wie beiläufig.
»Keine Ahnung«, bekennt mein Vetter. »Ich hätte vielleicht gefragt, ob sie wissen, in welche Gefahr sie ihre Familien bringen ... aber nein, auch das wäre eine dumme Frage gewesen, denn sie werden es sich natürlich wieder und wieder ausgemalt haben.«
»Das glaube ich nicht. Wenn Vater dabei an uns gedacht hätte, hätte er es nicht tun können.«
»Woher willst du das wissen? Du weißt ja nicht einmal, was genau er getan hat.
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