Einundzwanzigster Juli
der jungen Frau erschrocken, und ich weiß zwar nicht, woher sie kommt, aber erst in dieser Minute, und direkt vor unseren Augen, scheint ihr klar zu werden, warum sie hier ist.
Wir sehen den Frauen nach, die ins Haus gehen und sämtliche SS-Wachen hinter sich herziehen wie einen halb ehrfürchtigen, halb belustigten Tross. »Diese Schufte!«, flüstert Julius.
Markus kommt kurz vor dem Abendessen. Blass und mager, mit abrasiertem blanken Schädel, die Jacke schlottert ihm um die Schultern, als wäre es gar nicht seine. Geflüstert höre ich das Wort Dachau, während alle um ihn herumstehen und tun, als hätte sein Anblick überhaupt nichts Auffallendes. Ich erinnere mich an Markus’ lustige runde Brillengläser. Jetzt stechen sie von einer großen, spitzen Nase wie Fernrohre.
Und Markus kommt nicht allein. Seine Eltern sind bei ihm, Onkel Jasper und Tante Sofie. Onkel Jasper, grau im Gesicht, stützt sich auf Max und setzt mit Mühe einen Fuß vor den anderen, während Max ihm die Treppe hinauf in eins der Zimmer hilft. Ich höre Dr. Goerdelers energische Stimme im Foyer: »Das ist ja unglaublich! Der Mann ist todkrank! Er braucht seine Herzmedikamente, sonst kann ich keinerlei Verantwortung übernehmen!«
Plötzlich bin ich froh, nicht sehen zu müssen, wo mein Vater jetzt ist und wie es ihm geht.
Vielleicht ist die Erkältung schuld, vielleicht die langen Wochen des Alleinseins mit Mutter ... nach aller anfänglichen Freude über die wachsende Familie machen mir die durcheinanderredendenStimmen in dieser Nacht nur noch Kopfschmerzen. Was sie sagen, kann ich kaum auseinanderhalten, wie Pfeile schießen Stimmen durch den Raum und ich bin nicht schnell genug, sie zu fangen. Jeder will gleichzeitig erzählen, was er erlebt oder gerüchteweise gehört hat. Dachau, Ravensbrück, die Gefängnisse Stadelheim, Augsburg, Friedberg, Alexanderplatz und Lehrter Straße – ein Dutzend Personen liegt, sitzt und steht im Zimmer von Onkel Jasper und Tante Sofie und trägt zusammen. Max zündet sich eine Zigarette nach der anderen an und wedelt unablässig Rauch ins Freie, vorgeblich aus Rücksicht auf Onkel Jasper, in Wahrheit wohl eher aus Nervosität.
Nelly ist in Ravensbrück! Sie sei tapfer und gefasst, berichtet Tante Adele, die selbst dort war und Nelly manchmal durch einen Riss in ihrer Zellentür hat vorbeigehen sehen; nur die Kleider passten nicht mehr über den sich rundenden Bauch. Mit ihrem schweren baltischen Dialekt schildert sie den Klang Hunderter Holzschuhe beim Appell, die gestiefelten Aufseherinnen, die den Gang und die Stimme von Männern haben, das Klirren von Hand- und Fußfesseln, wenn Gefangene mitten in der Nacht zum Verhör geführt und am nächsten Morgen zerschlagen zurückgebracht werden. Das Licht in den Zellen der Verschwörer, das Tag und Nacht brennt, die Wachen, die unablässig davor auf- und abgehen. Baron Guttenberg ist in Ravensbrück, der Bruder von Tante Sofie. Der lange, höfliche Graf Moltke.
Tante Adele beginnt zu weinen. Nicht ein einziges Wort konnte sie mit Nelly wechseln! Ihr ersticktes, tiefes Schluchzen hört erst wieder auf, nachdem ihr ein Chor von Stimmen versichert hat, dass Nelly und die Kinder und der Großvater aus Walcheren bald nachkommen werden, ganz bestimmt, sie führten uns doch offenbar alle zusammen!
Omama sitzt – nach mehreren Wochen Einzelhaft im Gefängnis Balingen – in Lautlitz in zwei Zimmern. Mehrere Gestapo-Familien sind im Schloss einquartiert, Ausgebombte, die gleichzeitigauf sie aufpassen sollen. Max weiß es von Lexi, die Omama sofort nach ihrer Entlassung besucht hat. Unbemerkt hat sie bei der Gelegenheit zwei Büsten von Georg und Eckhardt weggeschleppt und in Sicherheit gebracht, bevor jemand auf die Idee kommen kann, sie zu zerstören.
Tante Helma und Tante Josi stehen im beschlagnahmten Schloss Geppingen unter Hausarrest. Ein eigens eingerichteter Treuhandfonds zahlt die Kosten unseres Aufenthalts im Hotel. Jemand holt ein Blatt Papier und schon wird eifrig in den Raum gerufen und notiert, was man sonst noch brauchen und bei den Treuhändern beantragen könnte. Onkel Teddy wird zu unserem Verhandlungsführer mit der Wachmannschaft bestimmt. Hochstimmung bricht aus. Endlich wieder etwas zu organisieren!
Kurz vor Mitternacht schleppe ich mich todmüde zurück in unser Zimmer. Mutters Atem rasselt im Schlaf; ich bin froh, dass ich nichts mehr erzählen muss.
Wir dürfen Briefe schreiben! Ohne Angabe des Absenders natürlich, da
Weitere Kostenlose Bücher