Einundzwanzigster Juli
Himmel fallen lassen.
Doch der Anbruch des Tageslichts hält auch eine freudige Überraschung bereit: Wir können das Innere des Waggons in Augenschein nehmen und entdecken dabei, dass direkt unter unseren Sitzen eine Kohlenkiste steht. Wir hätten gar nicht frieren müssen in der Nacht!
Viel Zeit bleibt nicht, uns zu freuen. Schon fliegt die Tür auf: »Drei Mann raus zum Schneeschippen!«
Es ist ein quälendes Unterfangen. Alle paar Minuten schiebt sich der Zug einen Meter voran. Nach zwei Stunden hat der Hauptscharführer ein Einsehen und telefoniert mit Stutthof, und wir
helfen Max, Markus und Eberhard zurück in den Wagen. Sie sind halb erfroren, am Ende ihrer Kräfte. Noch schlechter geht es nur Onkel Teddy, er hat sich quer über eine der freien Sitzreihen gelegt und die Augen geschlossen.
Tante Sofie und Tante Ilselotte dürfen an unser Gepäck, die letzten Sojamehlplätzchen aus den Verwandtenpaketen holen; Wasser dazu verteilt jemand von der Wachmannschaft in unsere aus Stutthof mitgebrachten Blechnäpfe. Und während ich so langsam wie möglich mein Plätzchen lutsche, ja, den Morgen mit Frühstück und warmem Ofen schon beinahe gemütlich zu finden beginne, bemerke ich, dass sich der Sturm verzieht.
Wie schön! Nach wochenlangem Ausblick auf einen Zaun werden wir endlich wieder Landschaft sehen! Etwa hundert Meter zu unserer Rechten ist bereits schemenhaft ein dunkler Streifen zu erkennen.
Ein Streifen in Bewegung. »Psst!«, mache ich erschrocken. »Hört doch mal! «
Neben uns ist ein einziges Klappern, Quietschen und Rumpeln, ein müdes, monotones Geräusch, wie ich es noch nie zuvor gehört habe. Es zieht von rechts nach links in die Richtung, in die auch wir wollen, aber es hört nicht auf, es nimmt und nimmt kein Ende. Und erst als ich über dem Klappern plötzlich das Weinen eines kleinen Kindes höre, weiß ich, was es ist, und warum es sich in Richtung Danzig schleppt.
Die Bevölkerung Ostpreußens ist auf der Flucht.
Und Oschgau ist nah, so nah!
Im Lager hatte ich kaum daran gedacht. Oschgau ist die Weite einer Sommerwiese, ein Dorfteich mit jungen Gänsen, ein Duft von Heu und Stall. Oschgau ist Vergangenheit, ein Märchen, nur Piotr und Ellen sind mitgekommen nach Berlin, nach Lautlitz, nach Reinerz und Stutthof.
Doch ein Märchen ist es nicht, das neben uns vorbeizieht. Neben uns ziehen Mensch und Tier, die ein Teil von mir sind, neben unszieht die Fritzi, die einmal war und die nicht hier in der Kleinbahn, sondern dort auf dem Treck sitzen würde, wenn Piotr nicht gewesen wäre.
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich dieser Fritzi noch einmal begegnen würde.
Hätte es nur nicht zu schneien aufgehört! Gegen Mittag trifft der Häftlingstrupp aus Stutthof ein, der die Gleise freischaufeln soll, und mit ihnen kommen zusätzliche Wagen, die zur Weiterfahrt angehängt werden. Direkt hinter uns reisen nun die mysteriösen Skandinavier, von denen wir im Lager bereits gehört hatten, hinter ihnen hängen die Viehwaggons.
Viehwaggons? Seitlich sehen wir im nunmehr klaren Winterlicht längliche, schlaffe Bündel in den Schnee fliegen, von je zwei Wachen an Händen und Füßen gepackt und mit Schwung geworfen. Ich wünschte, ich könnte die Augen abwenden. Zu Dutzenden schleudern sie erfrorene Häftlinge aus den Viehwaggons an den Wegesrand.
Sieh gut hin! Sieh gut hin und merk es dir!
Und die ganze Zeit rumpelt Fuhrwerk an Fuhrwerk vorüber, ein Lindwurm aus Pferdewagen, Ochsenwagen, von Menschen gezogenen Wagen, Wagen mit Planen, Wagen mit Großmüttern auf Matratzen und kleinen Kindern auf einem Haufen Stroh. Auch Fußgänger sind dabei, Kinderwagen, Hunde, Ziegen.
Zwei Elendszüge, einer auf der Straße, einer auf dem Gleis. Meterweise kommen wir voran – ich habe die Häftlinge vorbeigehen sehen, die nun vorne schuften müssen, ausgemergelte Gestalten in den gestreiften Kitteln des Lagers. Stutthof wird, wie es scheint, evakuiert, aber das heißt offenbar nicht, dass man auch mit allen am Ziel ankommen muss.
Vor uns, bei einem Streifen Wald, machen die Gleise einen Schlenker nach rechts und ich ahne es schon: Von da an werden sie direkt neben der Straße verlaufen. Ängstlich sehe ich den Abstandkleiner werden. Amerikaner von vorne, noch ein Schneesturm von oben ... bevor ich mich entschieden habe, auf welches Wunder ich hoffen soll, finden wir uns Auge in Auge mit jenem anderen Zug, und so Unheil verkündend der Treck als Ganzes, so erschreckend ist es nun, in Gesichter zu
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