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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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    Maifest! Die letzte schöne Erinnerung an Oschgau, bevor Antonia und ich alles zerschlugen. Lampions hingen in den Bäumen, überall im Gau tanzten Frauen auf Märkten und Plätzen und auch die Kriegsgefangenen und Fremdarbeiter waren da, hatten ihren eigenen Tisch und wurden von uns Jungmädeln bewirtet.
    Hat jemand geahnt, dass es das letzte Fest sein könnte? Die damals ausgelassen tanzten, sind halb tot vor Erschöpfung und Kälte, ihre Kinder schon zu schwach zum Weinen. Frauen, Mädchen und Großeltern führen die Wagen, begleitet von wenigen jüngeren Männern, die nur Fremdarbeiter sein können. Manche tragen Kinder auf dem Rücken und laufen neben dem Fuhrwerk, um warm zu bleiben. Auch Piotr hätte geholfen, ich weiß es.
    Lieber Gott, lass mich niemanden erkennen.
    Auch uns treffen Blicke – dass wir ein Häftlingstransport sind, ist wohl nicht zu übersehen. Aber die Blicke verraten nichts, weder unser mühsam erkämpfter Weg noch die Anwesenheit der SS stößt auf mehr als Teilnahmslosigkeit.
    Wem sollte man es verübeln? Das Volk, das Volk!, hat man uns jahrelang zugerufen. Jetzt ist jeder Flüchtlingswagen eine eigene Welt voll Kummer.
    Als wir ums Wäldchen gekrochen kommen, hocken dort zwei um eine zusammengerollte blaue Decke und die helle Stimme eines Jungen sagt: »Lass uns die Decke doch mitnehmen, Mama, die braucht der Jakob nicht mehr.«
    Und seine Mutter, die vor der Decke gekniet hat, nimmt das Bündel in den Arm, packt es aus und legt einen blassen kleinen Buben in den Schnee, und als die beiden längst wieder zur Straße hinaufgeklettert sind, stehen wir immer noch auf der Stelle undschauen stumm in das ernste, marmorne Gesichtchen vor unserem Fenster.
    Sehen eine zweite Frau den Hang hinab und fast gelaufen kommen, um nach den Füßen des Kleinen zu greifen und ihm die Stiefel auszuziehen. »Fritzi«, sagt Mutter leise und nimmt mich in den Arm, und erst da merke ich, dass mein Gesicht nass von Tränen ist.
    Ein doppelter Vollmond wacht über dieser Nacht, leuchtet prall und rund vom Himmel und glitzert noch viel schöner in den kleinen Wellen des Flusses, die so ruhig dahinfließen, dass man glauben könnte, sie schwebten. Fast meine ich, das andere Weichselufer zu erkennen, Dächer, das Häuschen des Fähranlegers. Nur eine Fähre ist nirgends zu sehen.
    Vor uns steht Wagen an Wagen der Flüchtlingstreck, den wir den ganzen Tag über an uns vorbeiziehen sahen. Es ist fast Mitternacht, für die dreißig Kilometer von Stutthof haben wir siebenunddreißig Stunden gebraucht, und wenn alle diese Leute vor uns in der Schlange stehen, dann sehe ich uns übermorgen noch hier warten.
    Eine Vermutung, die keinerlei Empfindung in mir auslöst. Wie betäubt starre ich nach vorn zum gemächlich fließenden Wasser und eine Stunde ist wie ein Tag wie ein Jahr.
    Doch plötzlich gerät Bewegung in die weiter vorn stehenden Wagen, alles scheint um Zentimeter vorzuruckeln. Hat jemand die Fähre gesehen? Nein, doch es nähert sich das Puckern eines Motors, und endlich gleitet von rechts ein flaches Gefährt heran.
    »Ach-tung! Der Zug zuerst!«
    Dumpfe Fausthiebe donnern von außen gegen die Wand. Wütende Rufe. Gilt das uns? Ja, natürlich werden sie protestieren, dass sie, die zuerst da waren, uns den Vortritt lassen müssen. »Scheiß SS! «, brüllt es in unser Fenster; offenbar hat jemand aus unserem Begleittross verbreitet, wir seien Angehörige der Wachmannschaft.
    In den frühen Morgenstunden des neuen Tages sind wir auf der anderen Seite der Weichsel. Viermal noch heißt es warten, bis sämtliche Waggons eingetroffen sind – auf die Fähre passt jeweils nur einer. Mir fallen die Augen zu, ich sacke mal nach links gegen Mutter, mal nach rechts gegen Max. Irgendwo weiter vorn wird fürchterlich gehustet, ganz quälend und trocken; das kann, das darf nicht Tante Adele sein.
     
    Wohin wir unterwegs sind, sagt uns niemand, doch am 6. Februar wissen wir, dass wir nicht gemeinsam ankommen werden. Die viertägige Fahrt durch Eis und Schnee, der anschließende Fußmarsch hinauf zum Straflager Matzkau, die stinkende Baracke, in der durchmarschierende Truppen Dreck und Ungeziefer hinterlassen hatten ... bis zu diesem Tag hatte ich nicht geahnt, wie schnell ein zwar geschwächter, aber eigentlich vollkommen gesunder Mensch vergehen kann. Alle Entbehrungen und Gefahren hatten ihr nichts anhaben können, der Wunsch, Nelly wiederzusehen, war so viel stärker gewesen. Doch körperliche Strapazen, sagt

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