Einundzwanzigster Juli
Mutter leise, treffen die Ältesten und die Jüngsten immer zuerst.
Am 7. Februar folgen wir Tante Adeles Sarg bis zum Lagertor, man hat versprochen, sie in Danzig zu beerdigen. In der Baracke liegt Onkel Teddy mit Typhus und erkennt uns nicht mehr. Am 8. Februar werden wir weitertransportiert und lassen ihn zurück.
Wenigstens warm haben wir es. Dicht an dicht liegen wir im Stroh des geschlossenen Viehwaggons; ich starre hinauf zu dem kleinen, vergitterten Fenster, hinter dem ein Stück weißgrauen Himmels zu erkennen ist, und denke an Olesia. Wenn sie wüsste, was draußen vor sich geht – wir würden sie zum ersten Mal lachen sehen!
Danzig ist Chaos, nackte Panik. Die Angst vor der Roten Armee hängt wie eine Giftwolke über der Stadt. Flüchtlinge, Soldaten und Verwundete, Panzer, Lastwagen und Sankas versperren einander den Weg, seit drei Tagen sitzen wir auf einem Nebengleis desBahnhofs fest und können weder vor noch zurück. Einmal am Tag dürfen wir am Gleis entlang auf- und abgehen, vorbei an einem Viehwaggon nach dem anderen, aus dem Gefangene uns um Wasser anbetteln. Vorbei an offenen Güterwagen, in denen halb erfrorene Flüchtlinge ihren Platz verteidigen, ohne zu merken, dass vor ihrem Zug keine Lok hängt.
Auf den Straßen rund um den Bahnhof marschieren Truppen, doch nicht an die Front: In ungeordneten Reihen kehren sie überstürzt von dort zurück und kapern rücksichtslos sämtliche Fortbewegungsmittel Richtung Westen. Reihe an Reihe stehen auch die zurückgelassenen Fuhrwerke, ineinander verkeilte Gespanne mit aufgetürmtem, nutzlos gewordenem Besitz und erschöpften, im Stehen verendenden Pferden.
Wir haben einen Platz im Wagen, einen Ofen und eine Petroleumfunzel. Die Flüchtlinge draußen haben nichts. Kopflos stürmen sie am vierten Abend, als es endlich losgehen soll, gegen unsere verschlossene Tür, eine wild verzweifelte Horde Menschen. »Hier ist kein Platz, versuchen Sie’s woanders!«, schreit die Pattke, die mit uns reist.
Die Pattke ist SS-Helferin und nach Hauptscharführer Kupfer die Verantwortliche für unseren Transport. Sie ist um die dreißig, eine stämmige, schlecht gelaunte Person mit herrischer Stimme und brauchbaren Ideen. Ihrem Rat folgend, haben wir beim Abtransport aus Matzkau alles geklaut, was nicht niet- und nagelfest war: Nägel, Schrauben, sogar die Haken aus den Schränken. Jetzt haben wir etwas, woran wir unsere Mäntel, Proviant und allerlei kleinere Gegenstände an der Zugwand aufhängen können.
»Hier sind halb erfrorene Frauen und Kinder!«, brüllt es von draußen.
Ich höre Fäuste trommeln, jemand scheint mit einem Messer ins Holz zu hacken. Aber die Pattke bleibt hart. »Hier sind Schutzhäftlinge des SS-Reichsführers Himmler«, brummt sie und legt sich wieder hin. Sie ist persönlich für unsere Sicherheit verantwortlich,und wenn sie die Tür nur einen Spaltbreit öffnete, wären wir binnen Sekunden überrannt.
Schutzhäftlinge!, denke ich müde. Schon wieder etwas Neues! Das Heulen und Betteln der Flüchtlinge klingt mir noch in den Ohren, als wir – ein kaum noch erwartetes Wunder – tatsächlich losfahren und das gleichmäßige Klappern der Räder auf den Bahnschwellen jedes andere Geräusch übertönt.
Wir haben zwei verloren. Die acht, die hinzugekommen sind, bedeuten mir nichts. Dabei sprechen fast alle der Ungarn, als die »die Skandinavier« sich entpuppt haben, Deutsch. Es sind Mitglieder der letzten ordentlichen ungarischen Regierung, die von den Nazis abgesetzt und entführt worden sind. Sie tragen Pelzmützen und gefütterte Husarenmäntel und sind unglaublich vornehm und höflich.
Tante Adele hätte die Ungarn geliebt. Auch Onkel Teddy hätte sich wunderbar mit ihnen verstanden. Zwei sind fort, zwei sind fort!, raunt der Zug.
Ans Klauen gewöhnt man sich schnell. Als es am frühen Morgen des fünften Tages heißt, wir müssten die kaum angetretene Fahrt schon wieder beenden, der Zugverkehr sei unterbrochen, nehmen wir den Ofen aus unserem Waggon kurzerhand mit.
Lastwagen warten. Ungefragt teilt einer der Fahrer uns beim Einsteigen mit, wir seien im Bezirk Köslin in Pommern und sollten vorübergehend in der Provinzheilanstalt zu Lauenburg unterkommen. Auch hier scheint man uns für SS-Angehörige zu halten.
Die Plane wird festgezurrt, wir sitzen wieder mal im Dunkeln. Vorn steigt das Fräulein Pattke beim Fahrer ein und wir hören ihre Stimmen durch die Zwischenwand.
»Der Russe ist über die Oder«, sagt der Mann.
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