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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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»Vom Lager Stutthof ist nichts mehr übrig – Luftangriff, alles kaputt!«
    Die Kommandostimme der Pattke forscht: »Und wo steht der Russe jetzt?«
    »Bei Neu-Stettin. In Bromberg soll er alle SS-Angehörigen umgebracht haben!«
    Da wird die Pattke still. Kreidebleich ist sie, als wir in Lauenburg aussteigen.
    In dem großen, leeren, ungeheizten Haus werden uns zwei klirrend kalte Zimmer zugewiesen – Zimmer mit Betten und Matratzen! Am Ende eines langen Gangs liegen Toiletten und ein Waschraum, aus dessen Hähnen zwar nur kaltes Wasser fließt, aber nach vier Tagen in Gesellschaft des bewährten Kübels und ohne einen einzigen Tropfen zum Waschen kommt es mir wie der reinste Luxus vor.
    Die Ungarn sind in einem separaten Zimmer untergebracht und der Kontakt mit ihnen ist verboten, aber nachdem die Wachmannschaft ihre Pflicht erfüllt und das Verbot ausgesprochen hat, verliert sie das Interesse an uns und lässt uns allein. Durchs Treppenhaus hören wir ihre besoffenen Stimmen ein Stockwerk tiefer.
    »Die plündern Vorräte!« Julius steht an der Treppe und lauscht. »Meine Güte«, sagt er angewidert. »Die Frauen sind betrunkener als die Männer.«
    »Die haben auch mehr Angst vor den Russen.«
    » Dem !«, verbessert mein Vetter. » Dem Russen. Ein singuläres Wesen, eine Urgewalt. Das macht es noch schlimmer, nicht wahr? Als ob keine einzelnen menschlichen Gestalten dazwischen wären, auf deren Barmherzigkeit man hoffen könnte.«
    »Hör auf!«, falle ich ihm schaudernd ins Wort.
    »Willst du etwas richtig Schönes sehen?«, fragt Julius zurück.
     
    Hinterm Haus glitzern tausend Lichter. Schnee liegt schwer auf Ästen und Zweigen, der große Park der Heilanstalt ist in der matten Morgensonne unberührt und strahlend weiß. »Meinst du, wir dürfen hinaus?«, flüstere ich.
    »Warum nicht? Die Tür steht offen ... wir bleiben hinter der Mauer ...«
    »Und wir sind Schutzhäftlinge!« Schon spüre ich, wie der Triumph des neuen Wortes sich über alle Gefahren erhebt. »Sie dürfen uns gar nichts tun.«
    »Wir könnten«, überlegt Julius, »vielleicht erst mal auf dem Weg bleiben ...«
    Aber da laufen wir auch schon, rennen um die Wette, versinken bis zu den Knien im Schnee, jagen uns um die Bäume, beginnen die tollste Schlacht ...
    Im Haus fliegt ein Fenster auf. »Julius!«, donnert eine aufgebrachte Stimme.
    »Kommt runter!«, winke ich übermütig.
    Das Fenster knallt zu. Mein Vetter, Schnee im Haar und auf den Schultern, blickt zerknirscht: »Oh weh! Am besten gehen wir rein, bevor er rauskommt.«
    Spielverderber! Enttäuscht folge ich ihm ins Haus. Oben am Treppenabsatz steht Max und bebt vor Zorn. »Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, knurrt er Julius an und packt ihn am Arm. »Willst du, dass die besoffenen Idioten auf euch schießen?«
    Jetzt, wo Onkel Teddy nicht mehr da und Onkel Jasper zu krank ist, hält er sich anscheinend für das Familienoberhaupt.
    »Tut mir leid. War meine Schuld«, sagt Julius ritterlich und macht es damit nur noch schlimmer – als ob es eine Sache unter Männern und ich zu blöd wäre, selbst zu entscheiden!
    »Ihr habt ja einen Knall!«, rufe ich empört. »Wir haben doch gar nichts getan!«
    Wie so oft, wenn ich sie wirklich gebraucht hätte, versagt meine Stimme den Dienst und fängt in der entscheidenden Argumentation an zu zittern. Nur bis zum Knall ist alles noch klar herausgekommen, ein Wort, das wie ein Blitz in meinen Onkel fährt.
    Und nicht nur in ihn. »Philippa!«, spuckt Mutter und löst sich aus dem Chor entgeisterter Verwandter, die aus dem Hintergrund herbeieilen. Der erste Streit! Schlagartig wird mir klar, dass ich gleich zwei ungeschriebene Gesetze gebrochen habe. Sie beginnenmit: Beleidige nie einen älteren Verwandten! und enden: Wenn wir nicht zusammenhalten, haben die anderen schon gewonnen.
    Und das alles, weil wir ein paar Minuten im Park waren? In mir schlägt es heiß zusammen.
    »Was ist denn das für ein Leben?«, schreie ich sie alle an. »Eingesperrt und rumgehetzt, dauernd bewacht, dauernd im Dunkeln, und wenn sie nicht aufpassen, lasst ihr uns nicht raus! Sollen sie mich doch erschießen! Ich mach nicht mehr mit! «
    Fange an zu heulen, drehe mich um und renne zurück ins Zimmer.
    Oder vielmehr: würde gern zurück ins Zimmer rennen. Leider sind wir eben erst angekommen und ich habe vor lauter Wut vergessen, welche der vielen Türen in diesem Flur die unsere ist. Hinter der ersten steht ein Haufen Spinde und Bettgestelle,

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