Einundzwanzigster Juli
als hätte sie auf bessere Stimmung gewartet, erscheint draußen eine herrliche, fast schon wärmende Sonne. Kleine Gruppen flanieren langsam durch den Park – Mutter und Tante Sofie, Fey und Max, die Hofackers und Goerdelers wie immer alle zusammen – vorbei an dem Schneemann, den wir gebaut haben und der am Kopf bereits zu glänzen und zu schmelzen beginnt.
Frühling! Die Natur hat sich nicht beeindrucken lassen. Schlagt ihr ruhig alles kaputt!, scheint sie sagen zu wollen. Ich habe meinen Auftrag von einem anderen.
Morgen werden wir wieder in einem dunklen, stickigen Waggon liegen, Seite an Seite und so eng, dass man sich beim Schlafen nicht einmal umdrehen kann. Links die Männer, rechts die Frauen, in der Mitte der mit einer Decke verhängte Kübel.
Morgen vielleicht! Heute will ich nicht daran denken. Ganz tief ziehe ich die frische Luft in meine Lungen. Ich fühle die Sonne auf meinen Wangen. Die Welt ist so schön!
Ein schriller Ton zerreißt meine Andacht. Fliegeralarm? Hier? Die letzten Tage habe ich uns beinahe am Ende der Welt gewähnt! Eilig laufen wir zurück zum Haus und werden in den Keller gescheucht, Markus und Max schleppen Onkel Jasper. Es sind Tiefflieger, die über das Haus hinwegdonnern, wir hören sie bis unten, aber Bomben fallen nicht.
Die Bombenüberraschung steht oben im Flur, als wir ins Zimmer zurückkehren. Schmaler geworden, die Haare eine Spur weißer, Freudentränen in den Augen ... und jählings überrannt von einem Dutzend glücklicher Verwandter, die ihn gleichzeitig umarmen wollen.
So viele haben wir verloren in den letzten sieben Monaten. Dies ist das erste Mal, dass wir jemanden zurückgewinnen. Onkel Teddy ist wieder bei uns!
V IERZEHN
Es muss der längste Zug der Welt sein. Offene Güterwagen und geschlossene Viehwaggons, so weit das Auge reicht; vom einen bis zum anderen Ende ist man eine Viertelstunde unterwegs. In den Wagen sind Häftlinge, Flüchtlinge und sogar Kühe gepfercht, deren Brüllen mir durch Mark und Bein geht. Ihre Euter scheinen zu platzen, aber niemanden interessiert’s.
»Stell dir vor, wie viele hungrige Babys man von all der Milch füttern könnte!«, sage ich zu Julius.
Wir stehen neben dem Zug und blicken ratlos zu mehreren sabbernden Mäulern auf, die sich verzweifelt hinter dem Gitterfenster drängen. Es ist der dritte Tag unserer Weiterreise und wir sind noch nicht über Rummelsburg hinaus gekommen. Die meiste Zeit stehen wir und warten den nächsten Fliegeralarm ab.
Und alles, was ich diesbezüglich bisher kennengelernt habe, verblasst vor dem Erlebnis, die Bomber und Tiefflieger direkt über dem Kopf zu wissen, mit nichts als einem hölzernen Zugdach zwischen uns und einer Menge Stroh zu meinen Füßen, das beim kleinsten Funkensprung brennen würde wie Zunder. Runter! Arme über den Kopf! Der Boden hebt und schüttelt sich, ob von den Geschützsalven oder vom Widerhall der Jagdflugzeuge, kann ich nicht sagen. Durch den offenen Spalt in der Zugtür sehen wir schnurgerade Linien aus Erde aufspritzen und mit Wucht ins Gleisbett prasseln.
Die Pattke verliert langsam die Nerven. Bei jedem Halt reißt sie die Tür auf und stürzt hinaus, um sich zu vergewissern, dass sie noch festen Boden unter den Füßen hat. Gut für uns! Im Gegensatz zu anderen Häftlingen, die in ihren engen, schmutzigenWaggons ausharren müssen, dürfen wir hinaus, während der Zug steht, und machen davon regen Gebrauch.
Und das liegt nicht nur an dem Bedürfnis, nach einem überstandenen Alarm Luft und Leben atmen zu wollen, oder daran, dass wir auf diese Weise vermeiden können, den Kübel zu benutzen. Es liegt in erster Linie daran, dass Dr. Goerdeler Onkel Jasper aufgegeben hat. Im stickigen Halbdunkel des Waggons, zwischen dicht gedrängt stehenden und sitzenden Menschen, liegt Julius’ Vater im Sterben.
In Matzkau hat Dr. Goerdeler mir leidgetan. Man konnte sehen, wie betroffen er war, dass er Tante Adele nicht zu retten vermochte. Einen Tag schien sie noch ganz erfreut, weil sie wegen ihrer Lungenentzündung in ein Einzelzimmer verlegt wurde – getragen von zwei jungen Männern auf einer Bahre, was sie sichtlich genoss! Den nächsten Tag stellte man Typhus bei ihr fest und drei weitere Tage später war sie tot.
Dass Onkel Teddy sich erholt und zu uns zurückgekehrt ist, sei ein Wunder, sagt Dr. Goerdeler. Doch ist da, wo ein Wunder herkam, noch ein zweites ...? Onkel Jasper verfällt vor unseren Augen und sein Wunder ist vielleicht, dass er überhaupt
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