Einzelstücke - Möller, M: Einzelstücke
leidtun? Ichverstehe Sie nicht ganz. Ich bin angetan … von Ihrer Arbeit und denke, dass Sie meine intelligenteste Mitarbeiterin sind.«
Ich sollte mich geschmeichelt fühlen, bin jedoch damit beschäftigt, Herrn Zwergers eigenartigen Blick, eine Mischung aus Sturheit, Ernst und Boshaftigkeit, zu verstehen.
»Da wäre nur noch das Eine, Frau Lenartz. Bitte hören Sie auf, irgendwelche unangebrachten Dinge über mich zu verbreiten, die wohl eher Ihrer … wie soll ich es mal positiv und wenig kränkend formulieren … Ihrer kreativen Fantasie entspringen. Ich meine, gerade jene kreative Fantasie ist es, die Sie zu so einer einzigartigen Werbetexterin werden lässt. Sie verstehen, was ich meine.«
»Nein.«
»Frau Lenartz, bitte. Ich nehme es Ihnen nicht übel.«
»Sie nehmen es mir nicht übel? Sie denken, Sie können mich belästigen und mir dann einfach so einen höheren Posten anbieten, wie man dem kleinen Mädchen ein Bonbon in den Mund schiebt, damit sie selbigen hält?«
»Mir ist nicht ganz klar, worauf Sie eigentlich hinauswollen.«
Ach, nicht?
Nun ist mir nicht ganz klar, ob mein Chef mit umfassender Verdrängung arbeitet oder unter einer massiven organischen Störung leidet, die sein Großhirn betrifft. Um die zweite Möglichkeit ausschließen zu können und Ersteres zu unterbinden, beuge ich mich über die Tischkante zu Herrn Zwerger hinüber, so dass sich unsere Gesichter fast berühren, damit er auch ganz sicher in meinen Augen sieht, was ich meine.
»Herr Zwerger, Sie haben mich genau auf diesen Schreibtisch gedrückt, mich festgehalten und Ihre Lippen auf meine gepresst, während Ihre Hände mich dort berührt haben, wo sie es niemals tun sollten.«
Mein Chef fährt in seinem Ledersessel nach hinten.
»Ich erwarte keinen besseren Posten. Ich möchte, dass Sie Ihren Fehler anerkennen und sich entschuldigen. Dann bleibe ich ganz sicher, auch ohne doppeltes Gehalt.«
»Das kann ich nicht. Und das werde ich auch niemals. Es würde bedeuten, dass ich Sie von all Ihren Andeutungen und Zeichen freisprechen würde. Ich denke eher, Sie müssten sich bei mir entschuldigen.«
»Was denn für Andeutungen und Zeichen?«
Nun falle ich doch tatsächlich aus allen Wolken. Wenn er mir jetzt noch meinen freizügigen Kleidungsstil vorwirft, verliere ich ganz sicher die Contenance.
»Frau Lenartz, für mich ist das Gespräch hier beendet. Sie bekommen die neue Stelle und etwas Zeit, sich zu konsolidieren. Ich verzichte auf eine Entschuldigung.«
In meinen Fingerspitzen beginnt es zu kribbeln. Urplötzlich gewinnt der Teil in mir an unbändiger Kraft, der Herrn Zwerger eine runterhauen möchte. Hat er mir gerade gesagt, was ich machen soll? Hat er mich gerade dafür verantwortlich gemacht, dass er mich belästigt hat, dass ich ihn von mir runterschieben und aus seinem Büro flüchten musste? Hat er mir die Schuld dafür gegeben, dass ich mich danach in jeder Faser meines Körpers schrecklich gefühlt habe? War ich verantwortlich für sein Fehlverhalten? Mädels auf dieser Welt – oder sollte ich besser Täterinnen dieser Welt sagen –, unsere Nötiger und Vergewaltiger sind die wahren Opfer!
»Frau Lenartz, ich wiederhole mich ungern, aber für mich ist das Gespräch hiermit beendet. Es sei denn, Sie wollen noch etwas sagen.«
Ich hebe mein Kinn und blicke meinem Chef direkt in die Augen.
»Nein. Ich will nichts mehr sagen. Ich stimme Ihnen völlig zu. Unser Gespräch ist hiermit beendet. Genau wie unser Arbeitsverhältnis!«
*
Kaum verlasse ich die Werbeagentur, schlägt mir das Herz bis zur Brust. Ich stehe auf der Bürgersteigkante und verliere beinahe das Gleichgewicht. Die Autos rasen an mir vorbei. Wo steht mein Auto? Wie kommt dieser überhebliche Zwerger nur dazu, MIR die Schuld für SEIN Verhalten zu geben? Mich bloßzustellen und mich zurechtzuweisen? MICH! Denkt dieser Idiot tatsächlich, er könne sich eine kleine Teilzeitamnesie bezogen auf den Vorfall mit einer Gehaltserhöhung erkaufen? Verdammt! Warum habe ich ihm nicht schon viel früher meine Kündigung auf den Tisch gepfeffert? Ein Fahrradfahrer klingelt mich zur Seite. Die Frau mit Kinderwagen verschwimmt vor meinen Augen. Hatte sie etwas zu mir gesagt? Ich habe gekündigt. Ich habe gekündigt. Ich habe gekündigt. Mein Herzschlag wird langsam ruhiger. Ich habe gekündigt.
*
Als ich nach Hause komme, klingle ich bei Tim. Während ich auf die verschlossene Wohnungstür starre, erinnere ich mich daran, wie ich Tim damals
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