Einzelstücke - Möller, M: Einzelstücke
habe ich mir die Stinkstiefel in meinem Leben mittlerweile auf bemitleidenswert heruntergetrunken. Ich sitze halb schief auf dem Schreibtischstuhl und schiebe die Nase fast bis an den Bildschirm in der Gewissheit, dass ich das Dokument des Interviews auf dem Desktop abgelegt hatte.
Werbekampagnen.
Steuererklärung.
Die Kündigung meines Mobilfunkvertrags.
Ein Kochrezept.
Mein Lebenslauf.
Das Foto von Frederik und mir.
Kein Interview.
Da ich betrunken bin, scheint diese Tatsache mich nicht weiter zu beunruhigen. Stattdessen klicke ich auf die Datei des Fotos von Frederik und mir. Nach kurzem Aufbau erscheint ein Bild von uns beiden, auf dem wir in die Kamera lächeln. Ich betrachte mit schiefem Kopf mich selbst statt Frederik. War ich damals eigentlich glücklich?
Mein Blick wandert zu Frederik.
Und wäre ich es mit ihm geblieben?
Dann durchzuckt mich der Gedanke an Christina, und die Wut auf sie brennt unter meiner Haut. Mit einem Klick schließe ich das Bild und erinnere mich meines eigentlichen Vorhabens. Das Interview bleibt jedoch auch nach einem weiteren Schluck Martini, einem schweren Seufzer und dem Starten des Suchprogramms des Apple unauffindbar. Langsam, ganz langsam wird mir der Ernst der Situation klar. Ich versuche, mich zu konzentrieren, und presse die Finger an die Schläfen. Also gut, also gut. Im schlimmsten aller Fälle schreibe ich es noch mal.
Kein Problem also.
Nachdenken.
Ein Problem also.
Da ich das Diktiergerät in die Luft gejagt habe. Fantastisch!
*
NOTFALLPLAN NO. 5
ART DES VORFALLS: NICHT AUFFINDBARE LEBENSWICHTIGE DATEI
SCHWERE: MAXIMAL
MAßNAHMENKATALOG: ES LIEGEN KEINE MAßNAHMEN VOR
ZEITPLAN: UNERHEBLICH
KONTAKTPERSONEN: NIEMAND
*
So weit, so schlecht. Mittlerweile stecke ich mit meinem Gesicht im mit kaltem Wasser bis zum Rand befüllten Waschbecken, um mein Gehirn abzukühlen. Leider nur mit mäßigem Erfolg. Beim Blick in den Spiegel klatsche ich mir auf die feuchten Wangen. Konzentrier dich, konzentrier dich, konzentrier dich. Und vor allen Dingen werde verdammt noch mal umgehend wieder nüchtern!
Im nächsten Moment hallt die Türklingel bis ins Badezimmer. Auf dem Weg zur Wohnungstür muss ich mich kurzfristig am Schirmständer festhalten, bevor ich die Tür mit Schwung aufreiße.
»Tim! Gut, dass du direkt kommen konntest.«
»Deswegen hast du dich am Telefon so komisch angehört.«
»Weswegen?«
»Du bist betrunken.«
»Ich bin ganz sicher NICHT … nüchtern. Komm rein.«
Tim versucht, mich auf meinem Weg ins Wohnzimmer zu stützen, was ich absolut albern finde. Schließlich landen wir beide auf der Couch. Während ich Tim meine Misere erkläre und beteuere, wie gern ich bei diesem Männermagazin anfangen und den Chefredakteur nicht enttäuschen würde und dass ich in Wahrheit wirklich nicht weiß, wie man mit meinem Handy Videos dreht, wie TimBurton aussieht und was ich nun zu tun gedenke, wird die Stirn meines Nachbarn immer faltiger.
»Das ist keine gute Idee, Anna.«
»Weißt du noch, als du mir diese SMS im bekifften Zustand geschickt hast, du hättest gerade versucht, deinen Kühlschrank aufzupimpen und jetzt würden lustige Funken daraus fliegen, woraufhin ich deine halbe Küche löschen musste? Das war keine gute Idee. Und habe ich dir damals einen Vorwurf gemacht?«
Tim lächelt und schiebt heroisch seine Brust heraus bei der Erinnerung an seinen spektakulären Kühlschrank.
»Der war nicht schlecht, was?«
»Tim!«
»Na meinetwegen. Dann lass uns anfangen«, gibt er sich geschlagen und springt vom Sofa auf, so dass ich in die freigewordene Kuhle rutsche. Im Liegen diktiere ich Tim erneut das Interview, zumindest die Stellen, an die ich mich noch erinnern kann, während ich auf sein breites Kreuz an meinem Schreibtisch blicke und die Boxershorts, die aus seiner tief sitzenden Jeans herausguckt. Tim beherrscht das Zweizeigefingersystem und das in einer kaum wahrnehmbar schleichenden Geschwindigkeit. Mir scheint, er fängt bei jedem Buchstaben neu an, auf der Tastatur danach zu suchen. Aber ich bin ihm dankbar für seine Hilfe und dafür, dass sich seine Schulterpartie immer anspannt, sobald er einen Finger zum Anschlag hebt. Tim ist fünfundzwanzig, studiert mittags Sport, gibt nachmittags Handykurse für Senioren an der Volkshochschule, hat abends Sex mit Frauen, deren Namen er sich nicht merkt, tötet nachts Aliens und Zombies auf der Playstation und wird sein Leben lang Singlefertignudelsuppenbecher kaufen.
Wir passen perfekt
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