Eis und Wasser, Wasser und Eis
der Nase entlang und sprach laut und deutlich.
»Hallo! Bist du noch da?«
Ein Atmen war alles, was sie als Antwort erhielt. Keinen Seufzer, nur ein Atmen, als hätte jemand das ganze Elend seines Lebens in einen einzigen resignierten Atemzug gepackt. Danach kehrte wieder das Schweigen ein, eine langes Schweigen.
»Dann ist sie also verrückt geworden«, sagte Elsie schließlich. Ihre Stimme klang müde. Erschöpft.
Susanne nickte schweigend.
»Wegen Björns Verschwinden?«
Susanne gab einen leisen Ton von sich, nahm sich dann zusammen und antwortete.
»Ich nehme es an.«
»Du nimmst es an?«
Die Stimme klang feindlich. Fast wie Inez’ Stimme, als sie … Jetzt nicht daran denken. Ruhig bleiben. Erwachsen sein.
»Ich weiß es nicht genau. Man kann nicht viel verstehen von dem, was sie sagt.«
Obwohl ein Teil wohl zu verstehen war. Gewisse Dinge waren ausgesprochen gut zu verstehen gewesen. Viel zu gut. Sie schloss die Augen, um die Erinnerung auszusperren, doch das half nichts. Inez lag unter ihren Augenlidern und schrie mit hassverzerrtem Gesicht, und ihre Schreie waren so schrill, dass Susanne sich bei der bloßen Erinnerung daran zusammenkrümmen musste. Du! Du! Du bist es nicht wert zu leben! Warum warst du nicht diejenige, die verschwunden ist? Du, du verdammtes kleines Luder …
Susanne öffnete wieder die Augen, starrte auf das Bild mit dem verschwundenen Pudel. Wenn sie den kleinen Hund hinter dem Bücherregal fand, würde sie ihn zertreten. Nein. Sie richtete sich erneut auf. Sie würde ihn in die Hand nehmen und mit dem Zeigefinger streicheln. Er hatte ja nichts getan. War nur verschwunden.
»Wird sie wieder gesund werden?«
Elsie klang immer noch feindlich. Soll sie doch, dachte Susanne und stand auf, drehte den Bildern den Rücken zu, stand ganz aufrecht da und sah, wie ihr eigener Zeigefinger ein kleines B in den Staub auf dem Telefontischchen schrieb. Sie würde später Staub wischen. Staub wischen und Staub saugen. Aber kein Essen kochen. Sie wollte von Wecken leben. Es gab so viele süße Wecken in der Küche, wie man sich nur wünschen konnte. Inez musste die ganze Nacht gebacken haben.
»Ich glaube schon. Der Arzt hat gesagt, dass man es in ungefähr einem Monat wissen wird.«
»Und bis dahin soll sie im Sankt Lars bleiben?«
»Ja.«
Wieder war es eine Weile still, dann holte Elsie tief Luft.
»Ich werde in einem Monat nach Hause kommen.«
»Aha.«
Susanne hörte selbst, wie gleichgültig das klang. Fast gelangweilt. Und Elsie hörte das auch.
»Und wie geht es dir?«
Was denkst du denn? Die Antwort fuhr ihr schnell durch den Kopf, aber Susanne schluckte sie hinunter, starrte stattdessen auf die Tapete. Eine graue Tapete. Richtig hässlich.
»Ganz gut.«
»Müsstest du nicht jetzt in der Schule sein?«
»Ich habe mir heute freigenommen.«
»Und Birger?«
»Er ist in der Schule.«
Wieder war es still. Susanne hob die Hand und drückte auf eine Verbindungsnaht der Tapete, umfasste sie mit Daumen und Zeigefinger, machte sich bereit, sie herunterzureißen, bremste sich dann im letzten Moment. Sie war nicht wie Inez. Sie würde keine Tapeten zerreißen. Sie hatte alle Tassen im Schrank.
»Wie ist es passiert?«, fragte Elsie.
»Tja«, antwortete Susanne und wünschte plötzlich, sie hätte ein Kaugummi, ein großes rosa Kaugummi, das sie zwischen den Schneidezähnen halten und dann so herausziehen würde, dass es einen Faden bildete, einen langen, zähen Faden zwischen ihrem Mund und ihren Fingern. Das würde zu ihrem nonchalanten Ton passen. Ihrem gleichgültigen Ton. Dem unberührten Ton.
»Die Polizei hat heute Morgen um halb fünf angerufen. Sie haben sie vor der Tuppaschule gefunden. Sie lag da offenbar nur in ihrem Nachthemd. Auf dem Asphalt. Und hat geheult.«
»Geheult?«
»Geschrien. Gekreischt. Wie du willst.«
»Ja …«
Elsie klang nicht mehr ganz so sauer. Eher verängstigt. Susanne lächelte die graue Tapete an. Das geschah ihr nur recht.
»Und sie hat geblutet. Denn sie hatte ein Fenster eingeschlagen und sich ziemlich heftig den Arm geschnitten. Sie mussten es mit über dreißig Stichen nähen. Aber es hat eine Weile gedauert, bis sie nähen konnten, denn sie war nur schwer zu bändigen …«
»Nur schwer zu bändigen? Inez?«
Susanne fuhr sich mit der Hand durch den Pony, konnte die Arroganz in ihrer Stimme kaum zügeln.
»Ja. Inez. Deine Schwester. Deine Zwillingsschwester. Sie hat auch geflucht. Und eine Krankenschwester so gebissen, dass die
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