Eis und Wasser, Wasser und Eis
genommen, die an dem Tag, als sie den Schreibtisch bekam, darin lag. Und wenn sie Elsies Schreibtisch bekam, dann bekam sie ja wohl auch das, was darinnen lag? Ja, so musste es sein. Andererseits wusste man ja nie, wie Inez die Sache sehen würde, deshalb war es am besten, das Geheimnis weiter geheim zu halten.
Sie hatte nicht viel in dem Beutel. Ein altes Foto von einem Jungen, in den sie einmal verliebt gewesen war, als sie in die Sechste ging. Eine winzig kleine Parfümflasche, die Elsie vor langer Zeit hatte wegwerfen wollen. Sie war leer, aber der Duft hielt sich noch in ihr, und das war ein Duft, der viele Bilder in sich barg: ein Nachtclub in Paris, ein rotes Abendkleid in New York und ein schneller Abschied auf einem Flugplatz … Der Duft überdeckte sogar den Ledergeruch des roten Einbands ihres Tagebuchs, und dieses Tagebuch war das größte und wichtigste Geheimnis in dem Beutel. Susanne zog es ganz vorsichtig heraus und legte es sich auf den Schoß, ließ es dort liegen, während sie sorgfältig den Turnbeutel zusammenlegte und sich unter den rechten Schenkel schob. Dann wäre er nicht zu sehen, wenn jemand plötzlich die Tür öffnete. Und das Tagebuch konnte sie in Windeseile unter den Pullover stopfen.
»Du denkst wie ein Detektiv«, hatte Ingalill einmal gesagt. »Du hast immer ein Alibi …«
Obwohl das gar nicht stimmte, das wusste Susanne schon damals. Denn es waren ja nicht die Detektive, die ein Alibi brauchten. Sondern die Mörder.
Jetzt drehte und wendete sie das Tagebuch und strich mit dem Zeigefinger über ihren Spiontrick. Sie klebte immer ganz unten ein winziges Stückchen Klebeband fest, ein ganz, ganz winziges Stückchen, das sich lösen und herunterfallen würde, wenn jemand Unbefugtes das Tagebuch öffnen sollte. Ihr gefiel das Gewicht des Wortes: unbefugt. Unbefugte haben keinen Zutritt. Recht geschieht es ihnen.
Aber die Unbefugten hatten das Tagebuch nicht angerührt, das fühlte sie. Das Klebeband war noch dort, wo sie es vor ein paar Tagen befestigt hatte. Andererseits konnte man ja nie wirklich sicher sein. Es war schließlich möglich, dass die Unbefugten herausbekommen hatten, was sie tat, und deshalb das Klebeband wieder an Ort und Stelle geklebt hatten, nachdem sie heimlich gelesen hatten … Aber so durfte man nicht denken. Sonst wurde man verrückt.
Susanne blätterte etwas unschlüssig in ihrem Tagebuch. Sollte sie etwas darüber schreiben, was heute Abend passiert war? Über die Mädchen vor dem Haus? Über Eva? Darüber, wie merkwürdig es war, ausgewählt zu werden? Über ihr neues Gesicht?
Nein. Das wollte sie nicht. Wenn sie es aufschrieb, würde die Erinnerung zerstört und nur noch das Geschriebene bleiben, und das war ein Abend, an den sie sich wirklich erinnern wollte. Deshalb legte sie das Tagebuch zur Seite, schob die Hand unter den Pullover und holte die kleine Tüte hervor, die sie von Eva bekommen und die sie schnell in ihren BH geschoben hatte, als sie die Pforte hinter sich geschlossen hatte und auf das Haus zugegangen war.
Es lagen fünf kleine Tuben in der Tüte, zwei Lippenstifte in Plastikhülsen, ein richtiger Eyeliner und drei – drei! – Röhrchen mit Parfüm. Es waren Gratisproben, das war trotz des schwachen Lichts zu erkennen, denn alles bis auf den Eyeliner war winzig klein. Die Lippenstifte waren kaum länger als zwei Zentimeter, als sie sie aus den Hülsen drehte, und keine der Tuben war länger als ihr kleiner Finger. Aber das machte nichts. Ganz im Gegenteil. Als Susanne noch klein war, konnte sie sich nichts Schöneres denken, als mit Inez’ und Elsies altem Puppenhaus zu spielen. Es durchfuhr sie ein Schauer des Entzückens, wenn sie einen kleinen Liegestuhl in Miniatur aufklappte oder einen Tisch mit einem mikroskopisch kleinen Teeservice deckte. Evas Geschenke waren eine Fortsetzung des alten Spiels, es schien, als hätte sie bereits im Voraus gewusst, dass Susanne immer noch alles liebte, was Puppenhausgröße hatte.
Sie betrachtete mit einem Seufzer ihren Schatz. Würde sie es wagen, ihn Inez zu zeigen? Nein, das ging nicht, wenn sie nun wütend wurde und alles konfiszierte? Aber sie wollte auch nicht alles nur unter der Matratze verstecken, dann konnte sie all das Neue gar nicht benutzen. Dann würde sie Eva enttäuschen. Und Susanne wollte Eva nicht enttäuschen.
Die Schultasche, natürlich. Sie würde einen Lippenstift und eine kleine Tube mit Make-up aussuchen und sie in die Tasche ihres Schulranzens stecken. Das war
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