Eisblume
noch annähernd volles Haar gehabt. Gut, die Geheimratsecken waren schon damals nicht zu leugnen gewesen, inzwischen näherte sich aber die Freifläche der Stirn in erschreckendem Maße dem Kahlschlag an seinem Hinterkopf. Ob er es vielleicht doch mal mit einer Glatze versuchen sollte? Würde er damit flott aussehen oder wie ein Billig-Abklatsch von Kojak? Ihm fehlte der Mut.
»Wie sieht’s aus? Kannst du dich heute noch von deinem Spiegelbild losreißen oder muss ich Gewalt anwenden?« Cecilia hatte sich unbemerkt ins Schlafzimmer geschlichen und beobachtete ihn amüsiert.
»Soll ich mir die Haare ganz abrasieren?«
»Eine Glatze?«
»Ja.«
»Muss ich das jetzt sofort beantworten?«
»Nein, ich glaub, das hat Zeit bis nachher.«
Sie liefen zur Ammertalbahn, kauften zwei Fahrscheine und waren erfreut, dass die Bahn pünktlich kam. Sie mussten erst eine Horde Schüler aus dem Wagen lassen, bevor sie einsteigen konnten. Die Luft im Wagen war schlecht und überheizt, und zu allem Übel machte der Lokführer keine Anstalten, loszufahren. Brander öffnete seine Jacke und sah auf die Uhr.
»Na, hoffentlich gibt der bald mal Gas, sonst kriegen wir die S-Bahn in Herrenberg nicht.«
»Dann trinken wir in der Bahnhofsbäckerei einen Kaffee. Wir haben es doch nicht eilig«, entgegnete Cecilia entspannt.
Endlich schlossen sich die Türen und die Bahn fuhr an. Eine Minute vor Abfahrt der S-Bahn nach Stuttgart erreichten sie den Herrenberger Bahnhof. Brander schnappte sich Cecilias Hand. »Los, die kriegen wir noch!«
Sie spurteten mit den anderen Reisenden aus dem Wagen, die Treppe hinunter durch die Unterführung. Am Treppenaufgang saß ein Akkordeonspieler und begleitete den Wettlauf mit einer zum Trubel unpassenden, gemächlichen Melodie. Brander hatte den Akkordeonspieler schon öfter in dieser Unterführung gesehen. Er wusste nicht, welcher Nationalität er angehörte, aber er wusste, dass er seit Jahr und Tag immer nur die gleiche kurze Melodie spielte. Wie in einer Endlosschleife. Sie stürmten die Treppen hinauf zum Gleis zwei. Ein Jugendlicher hatte sich wagemutig vor die Lichtschranke der automatischen Tür gestellt.
»Geben Sie die Tür frei. Die Abfahrt des Zuges verzögert sich sonst«, dröhnte es durch einen Lautsprecher. Brander und Cecilia sprangen in die Bahn, blieben atemlos im Gang stehen. Cecilia lachte und bedankte sich bei dem jungen Mann für seinen Einsatz.
»Keine Ursache«, winkte dieser ab und setzte sich auf einen freien Platz.
Cecilia und Brander ließen sich auf die gegenüberliegende Bank fallen. Als die Bahn losfuhr, kicherte Cecilia noch immer leise vor sich hin.
Sie stiegen in Stuttgart am Bahnhof Stadtmitte aus und fuhren die Rolltreppe Richtung Königstraße hinauf. Menschenmassen strömten mit ihnen Richtung Weihnachtsmarkt. Ein Obdachloser versuchte, eine Ausgabe der Straßenzeitung zu verkaufen. Zwei Punks standen am Ausgang der Unterführung Richtung Königstraße und bettelten die Passanten an. Der größere von ihnen trug eine alte Lederjacke, die mit einem Silberstift beschrieben war. Die Haare hatte er zu einem missglückten Irokesenschnitt frisiert. Der kleinere von ihnen kam auf Brander zu. Springerstiefel, Löcher in der Jeans, einen Strickpulli, der fast bis zu den Knien hing, darüber eine schmutzige Jacke. Er trug eine Strickmütze, unter der sich eine Glatze vermuten ließ. Auch die Augenbrauen waren wegrasiert.
»Ey, habta mal ‘n Euro?« Der Punk hielt ihm einen abgenutzten Subway-Becher hin. Er war fast so groß wie Cecilia, mit weichen, kindlichen Gesichtszügen. Brander wollte schon den Kopf schütteln, als Cecilia ihr Portemonnaie zückte und zwei Euro in den Becher warf.
»Großzügig, ey«, quittierte der Punk mit heller Stimme, als wäre er noch nicht im Stimmbruch angekommen. Zwei wasserblaue Augen sahen sie an, dann drehte er ab und sprach den nächsten Fußgänger an. Einen winzigen Moment lang war ein Gedanke in Branders Kopf hochgeschossen und, ohne dass er ihn fassen konnte, gleich wieder abgetaucht.
»Pack deinen Geldbeutel ordentlich wieder weg, dass dir keiner nachher im Gedränge …«
»Ich hatte mich schon gefragt, wann der Satz endlich kommt«, unterbrach ihn Cecilia und hakte sich vergnügt bei ihm unter. Sie gingen aus der Unterführung, vorbei an der Auslage von »Butlers«, passierten die Calwer Straße.
»Schon traurig«, seufzte Cecilia etwas weniger fröhlich im Weitergehen.
»Was?«
»Die war doch noch keine
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