Eisblume
Straßen. In einigen Wohnungen brannten die ersten Lichter. Obwohl es noch stockfinster war, hielt der nächste Tag bereits Einzug. Brander spürte die Schwere seiner Arme, seiner Schultern und vor allem seiner Augenlider.
»Wir wissen noch immer nicht, woher er kam und wohin er wollte«, stellte er fest. Er massierte sich mit beiden Händen die Kopfhaut, gähnte laut. »Wen hat er getroffen? Was genau ist passiert?« Ihm fielen die Augen zu, und er merkte, dass er in der Wärme des Wagens und bei dem gleichmäßigen Brummen des Motors kaum noch gegen die Müdigkeit ankam. »Verdammt, ich brauch ‘ne Mütze Schlaf.«
»Lass uns zu mir fahren. Du kannst dich aufs Sofa legen. Ich würde mich auch gern ein paar Minuten ausruhen«, schlug Peppi vor.
Brander überlegte kurz, nach Hause zu fahren, verwarf den Gedanken wieder. Peppi wohnte in einer kleinen Eigentumswohnung im Französischen Viertel, die sie sich gegönnt hatte, nachdem ihr Mann vor fünf Jahren beschlossen hatte, mit einer neunzehn Jahre jüngeren Frau eine Familie zu gründen. Von Peppis Wohnung aus war er wesentlich schneller in der Polizeidirektion, als wenn er jetzt erst die zehn Kilometer nach Entringen fahren würde. Er wollte so schnell wie möglich mit den Ermittlungen fortfahren. Das Entsetzen, die Trauer, die er bei Jasmin Risch gesehen hatte, hatten ihn getroffen. Mehr, als es ihn sonst traf. Vielleicht lag es an seiner eigenen Situation, dass er die Gefühle nicht von sich fernhalten konnte. Vielleicht war er auch einfach nur übermüdet.
Mittwoch
Brander lag auf dem Sofa und versuchte, die Müdigkeit aus seinem Kopf zu vertreiben. Es war kurz nach sieben. Peppi hatte ihn geweckt und war anschließend in der Küche verschwunden, um Espresso zu kochen. Er stand auf, nahm sein Handy vom Tisch und ging zum Fenster. Noch immer fielen kleine Flocken aus einer dichten Wolkendecke, hinter der sich der Ansatz einer Morgendämmerung erahnen ließ. Straßen und Dächer waren schneebedeckt. Er mochte das Viertel mit den bunten, unterschiedlich gestalteten Wohnblöcken. Aus dem ehemaligen Militärgelände der französischen Truppen war in den letzten fünfzehn Jahren ein schönes Wohngebiet geworden. Auch Cecilia und er hatten vor sieben Jahren, als er von Stuttgart zur Polizeidirektion Tübingen wechselte, überlegt, hier eine Wohnung zu kaufen. Doch dann hatten sie die Doppelhaushälfte in dem kleinen Dorf am Rande des Schönbuchs entdeckt und beschlossen, von der Landeshauptstadt aufs Land zu ziehen.
Aus der Küche drang das zischende und blubbernde Geräusch des Bialetti und kündigte einen heißen Espresso an. Brander streckte sich und wählte Daniels Nummer.
»Der von Ihnen gewünschte Teilnehmer ist …«
Er legte auf, wählte Cecilias Nummer.
»Hallo, Andi«, hörte er ihre vertraute Stimme.
»Hey, Ceci.«
Durch das Fenster sah er Menschen in dicken Winterjacken die Wege entlanggehen – zur Arbeit, zum Bäcker, einer führte einen Hund spazieren. Brander holte tief Luft, als müsste er Kräfte sammeln, um ein schweres Möbelstück zu verrücken. »Weißt du etwas Neues?«
»Ich habe mit deinen Eltern telefoniert. Sie sind bereits unterwegs. Sie fahren mit dem Zug nach Düsseldorf.«
»Gut.« Brander spürte für einen kurzen Augenblick Erleichterung. Ihm war nicht wohl gewesen bei dem Gedanken, dass seine Eltern bei diesem Wetter so eine lange Strecke mit dem Auto fahren wollten. Mitteldeutschland hatte der Schneefall noch stärker getroffen als den Süden. Die Verkehrsnachrichten überschlugen sich mit Meldungen über kilometerlange Staus und Straßensperrungen.
»Daniel und Julian waren die ganze Nacht im Krankenhaus«, fuhr Cecilia fort. »Es sieht so aus, als ob Babs durchkommt. Man weiß nur noch nicht …«
Sie hielt inne, und Brander ahnte, wie schwer es ihr fiel, weiterzusprechen. Sie musste ihm nichts erklären. Er wusste, welche Folgen eine Überdosis Schlaftabletten haben konnte. Atemdepression, dadurch Unterversorgung des Blutes mit Sauerstoff, infolgedessen auch Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff, Ausfall von Gehirnfunktionen.
»Hmm«, sagte er in ihr Schweigen. »Und du? Wie geht es dir?«
»Ich mache mir Sorgen. Um Babs, um Julian, um Daniel … um dich.«
»Mach dir keine Sorgen um mich«, versuchte er, seine Frau zu beruhigen. »Ich bin beschäftigt.«
»Darum mache ich mir ja Sorgen.«
»Ach, Ceci …« Er starrte auf das Fenster, erkannte in der Scheibe undeutlich sein Spiegelbild vor dem
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