Eisblumen - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners zweiter Fall) (German Edition)
Das ist nichts Besonderes, das wird bis heute in Aktenplänen so gemacht.«
Ihre letzte Bemerkung wirkte eindeutig erlösend, als sei es nun, in der Gegenwart und auf der sicheren Basis der Bürokratie, wieder möglich zu reden.
Ein Stimmengewirr setzte ein: »Kennen wir.«
»Täglicher Papierkram ...«
»Wisst ihr noch, als die letztes Jahr alles geändert haben im Ministerium? Wochenlang haben wir Akten umsortiert.«
»Als hättest du da mitgemacht.«
»Ich dachte immer, KdF sei die Abkürzung für ›Kraft durch Freude‹.« Dr. Grede lenkte deutlich zum Thema zurück.
»Das ist auch richtig. In diesem Zusammenhang, denke ich, ist die Kanzlei des Führers gemeint, da das Hauptamt II neben anderem für die Auswahl, Einrichtung und Kontrolle der Euthanasieanstalten zuständig war.«
Das leuchtete allen ein.
»Wie viele Menschen wurden denn damals getötet?«, wollte jemand wissen.
»Man geht von mehr als 130.000 Opfern aus, obwohl die Forschungen dazu noch nicht abgeschlossen sind.«
»War so eine Anstalt hier in der Nähe?« Das fragte eine der Streifenpolizistinnen.
»Wenn Sie eine der Tötungsanstalten meinen, nein. Davon gab es insgesamt sechs und die nächstgelegenen sind die in Bernburg bei Halle und in Brandenburg an der Havel gewesen. Aber die hier ganz in der Nähe befindliche Heil- und Pflegeanstalt in Uchtspringe hat ebenfalls ihre Patienten gemeldet und verschickt.«
»In Uchte!? Die auch?« Nun rückte das Thema räumlich näher.
Laura sah in ihre Aufzeichnungen. »Ja. Patienten aus Uchtspringe wurden zwangssterilisiert, mit einer Überdosis von Medikamenten ermordet oder in Tötungsanstalten transportiert. Kinder, Frauen und Männer.«
»Kinder auch?«
»Von hier?«
»Aus Uchte?« Einigen am Tisch wurde unbehaglich.
»Kinder stellten sogar die größte Opfergruppe von den etwa 500 Menschen dar, die in Uchtspringe mit einer Überdosierung ermordet wurden. Mehr als 760 Leute wurden hier zwangssterilisiert. Uchtspringe diente in der Aktion T4 als Zwischenanstalt; knapp 1800 Patienten sind von dort abtransportiert worden.«
Die Zuhörer brauchten einen Moment, um diese Zahlen einzuordnen. Die Besprechung wurde anstrengend. Judith Brunner entschloss sich, allen eine kurze Pause zu genehmigen.
~ 33 ~
Auf dem Weg zu Judith Brunners Büro kamen Laura Perch beträchtliche Bedenken, ob dies der richtige Moment war, um etwas davon anzusprechen, was sie seit ihrer Vorbereitung auf das Euthanasie-Thema auf dem Herzen hatte. Deswegen übergab sie Judith nur rasch einige Kopien. »Sehen Sie, ich habe hier noch ein Verzeichnis gefunden, das Anfang der 1970er Jahre publiziert wurde, mit den Namen der damaligen NS-Gutachter. Vielleicht hilft Ihnen das ja weiter?«
Judith griff interessiert nach dem Blatt und überflog es.
»Und hier«, Laura hatte noch eine Kopie, »eine Liste mit den Namen der Mitglieder des besagten Reichsausschusses. Einige Namen stehen auf beiden Listen. Die übergroße Mehrzahl der Gutachter konnte übrigens nach Kriegsende unbehelligt weiter als Arzt praktizieren.«
»Danke, Laura, Sie sind wirklich eine große Hilfe.« – Konnten weiter als Arzt praktizieren! – Ob sie hier ein Motiv entdecken konnte? Judith versuchte, diesen Gedanken zu behalten.
Angespornt durch das Lob, entschloss sich Laura, jetzt mit der Sprache herauszurücken und folgte Judith in deren Büro. Die Einrichtung würdigte sie mit keinem Blick.
»Wissen Sie, Judith, etwas geht mir gar nicht aus dem Kopf. Ich kann mir diesen Zettel in Robert Wolffs Wagen nicht erklären. Er hat nie auch nur eine Andeutung von wirklichem Interesse gezeigt, was historische Themen betrifft. Er wusste natürlich die Ästhetik eines alten Gebäudes zu würdigen oder nutzte geschickt so etwas wie den Buchstabenstein für seine Schmeicheleien. Doch dass er sich sonderlich mit Geschichte befasst hätte? Und dann noch mit einem Thema wie NS-Euthanasie! Verstehen Sie, Robert war nicht nur oberflächlich, das meine ich nicht, aber ... Meine Arbeit zum Beispiel hat er eher als eine luxuriöse, weil gut bezahlte Form von staatlicher Subvention meines Hobbys gesehen. Das hat ihn amüsiert. Aber eigentlich war es ihm völlig gleichgültig, was ich da mache.«
»Die Notizen müssen allerdings nicht von ihm sein. Auch der Täter könnte sie gemacht haben und hat sie dann verloren. Aber wieso in Wolffs Auto?«
Laura fuhr einfach fort. Sie wollte nichts von dem vergessen, was sie zu sagen hatte: »Euthanasie in der NS-Zeit
Weitere Kostenlose Bücher