Eisblumen - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners zweiter Fall) (German Edition)
Räume rechts von der Diele dem Verein vorbehalten. Die Familie Rausch bewohnte vermutlich die linke Hälfte und das ausgebaute Dachgeschoss; irgendwohin musste der Junge ja verschwunden sein. Die Decke im Vereinsraum war recht niedrig, ungleichmäßig und rau verputzt. Drei Doppelfenster gingen auf die Straße hinaus. Die Einrichtung war zweckmäßig; um einen rechteckigen Tisch standen schmucklose Stühle, und ein zweitüriger Schrank war neben die Verbindungstür zur Bibliothek gestellt worden. In diesem Zimmer tagte sicherlich der Vorstand.
Rausch kam mit einem Tablett; er hatte sogar Zitronenscheiben geschnitten. »Bitte, bedienen Sie sich«, forderte er seinen Gast auf.
Sie setzten sich an den großen Tisch und Rausch erklärte: »Ich nutze immer die Winterferien für diese Redaktionsarbeiten am Jahrbuch, wissen Sie. In der Unterrichtszeit komme ich kaum dazu. Ich bin Lehrer hier an der Oberschule, für Geschichte und Erdkunde«, er zögerte absichtlich, »insofern bin ich schon neugierig, was die Polizei von mir will.«
Judith Brunner lächelte ihn an. »Ein schöner Beruf. Das meine ich ehrlich. Aber ich bin hier, weil Sie Vorsitzender des Geschichtsvereins sind. Ich hoffe, Sie können mir bei einer aktuellen Ermittlung helfen.«
»Hat eines unserer Mitglieder etwas angestellt?«
»Nein, nein. Darum geht es nicht. Mich interessieren die Themen, zu denen hier in der Gegend um Gardelegen gerade so geforscht wird.«
»Für aktuelle Ermittlungen?« Das klang skeptisch.
»Ja.« Judith Brunner wollte vorerst nicht preisgeben, worum es sich handelte, auch wenn der Mann weiter insistieren würde. Freundlich lächelnd hakte sie nach: »Es wäre wirklich eine Hilfe.«
Rausch hatte verstanden. »Nun gut. Da wären zunächst die unermüdlichen Namens- und Familienforscher. Jeder Laie denkt, das kann er auch. Dann merken sie irgendwann, dass schon etwas mehr dazugehört, als lesen und schreiben zu können, und verlieren die Lust. Die wenigen, die wirklich dran bleiben, sind aber oft sehr gut. Engagiert, sachkundig und glücklich über ihre Erkenntnisse. Natürlich wollen sie das dann auch veröffentlichen. Hier kommen wir ins Spiel. Aber mehr als einen genealogischen Beitrag pro Jahrbuch kann ich nicht annehmen. Dann sind da noch die Leute mit den Dorfkirchen. Ein ebenso dankbares Thema, Kirchengeschichte überhaupt. Und dann ...«
Judith Brunner unterbrach seinen Redefluss: »Und weniger dankbare Themen, gibt es da etwas?«
»Geht es etwas präziser?« Rausch beugte sich gespannt vor.
»Tabuthemen, unangenehme Wahrheiten.«
»In der Heimatgeschichte?« Franz Rausch dachte trotz des leicht arroganten Untertons in seiner Frage einen Moment nach. Dann grinste er. »Jedes Thema, zu dem es noch Zeitzeugen gibt. Suchen sie sich eins aus.«
Judith Brunner sah ihn weiter an. »Das würde bedeuten, jedes Thema aus den letzten sechzig, siebzig Jahren.«
»Richtig, genau das meinte ich. Vor allem aber NS-Zeit, Krieg, Besatzung, Enteignung oder deutsche Teilung. Jeder kennt jemanden und weiß, was die Leute wirklich gemacht haben. Und jeder hat eigene Erfahrungen. Was meinen Sie, was hier los ist, wenn einer die ›unangenehmen Wahrheiten‹ aufschreibt. Schon in den Redaktionssitzungen geht es dann hoch her.«
Judith Brunner wollte wissen: »Und? Drucken Sie auch neueste Geschichte?«
Rausch schwieg einen Moment, bevor er antwortete: »Sicher, über den Widerstand gegen das NS-Regime zum Beispiel. Aber wenig, dafür gibt es andere Schriftenreihen. Insgesamt erscheint etwas Zeitgeschichtliches bei uns seltener. Der Autor muss dann schon Herausragendes bieten. So viele Kandidaten dafür haben wir in der Altmark nun auch wieder nicht. Wir kennen schon die üblichen Verdächtigen. Manchmal meldet sich von auswärts noch ein Student auf der Suche nach einer Publikationsmöglichkeit für seine Diplomarbeit. Aber der Kreis der Leute hier aus der Gegend, die so etwas können, ist überschaubar.«
»Sehr schön. Dann wäre es Ihnen sicher möglich, dass Sie mir eine Liste dieser Personen und der Themen, an denen sie gerade forschen, zusammenstellen. Ich wäre Ihnen wirklich dankbar.«
»In Ordnung, Frau Brunner. Verraten Sie mir jetzt, worum es Ihnen eigentlich geht?«
»Nein. Noch nicht. Vielleicht, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind.« Sie stand auf und reichte ihm zum Abschied die Hand.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Rausch trug genau so einen Ring am Finger wie Wubbo Wiesel. Interessant, dachte Judith
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