Eisblumen - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners zweiter Fall) (German Edition)
nicht mehr, wann das letzte Mal. Die Gisela ist ja immer da. Und das Mädchen, na die hat im Stall sowieso kaum mitgemacht. Deswegen hab ich heute gleich ja gesagt, ich kümmer mich schon, nutzt mich sicherlich nich aus, die Gisela.«
Dreyers letzte Zeugin wohnte dicht beim Teich, in einer Kate, zusammen mit ihrem Sohn. Thekla Müller arbeitete als Putzfrau auf dem Gut. Ihr Ehemann hatte sich vor etlichen Jahren aus dem Staub gemacht, der Sohn Heini lernte in Gardelegen auf dem Bau. Sie lebte unauffällig im Dorf. Außer dass sie sich grüßten, hatten Walter und Thekla Müller kaum Kontakt. Als er die Frau vor ein paar Monaten einmal hatte befragen müssen, bekam er den Eindruck, sie warte immer noch darauf, dass ihr Mann zurückkäme.
Diesen bestätigte sie nun: »Deswegen bin ich gleich zum Teich gelaufen. Ich dachte, vielleicht ist er es.«
»Warum sollte Ihr Mann zurückkommen und dann tot sein?« Walter verstand die Frau nicht.
»Ich dachte, vielleicht hat er zu mir gewollt und ist in den Teich gefallen.«
»Ein erwachsener Mann? Der Teich ist zugefroren, Frau Müller.«
»Ich hab trotzdem wissen wollen, ob er das ist. Ich meine, ob er gekommen ist.«
Warum hoffte sie immer noch? Walter erinnerte sich, dass Heini Müller ein kleiner Junge war, als sein Vater verschwand. Man hatte seitdem nie wieder etwas von ihm gehört. Etwas anderes wäre mit Sicherheit auch an sein Ohr gedrungen.
»Haben Sie ihn denn erwartet?«
Die Frau schüttelte nur den Kopf und begann zu weinen. Unter Tränen brachte sie hervor: »Wenn er zwanzig Jahre weg ist, erklären Sie ihn dann für tot?« Ihre Frage klang furchtsam.
»Wie bitte?«
»Machen Sie das denn nicht so?«
»Wieso denn?« Walter Dreyer konnte die Wendung des Gesprächs nicht begreifen. »Wer macht was?«
»Der Heini hat mir erzählt, dass, wenn ein Vermisster nach längerer Zeit nicht gefunden wird, er als verschollen gilt, und«, sie schniefte, »dann für tot erklärt wird.«
»Ja, und möchten Sie das dann?« Walter Dreyer wusste immer noch nicht, was los war.
»Nein!«, rief Thekla Müller.
»Na, dann ist doch alles in Ordnung. Für tot kann Ihr Mann nur auf Ihren Antrag hin erklärt werden. Wenn Sie das nicht möchten, dann eben nicht.«
»Aber der Junge will das Geld! Die Halbwaisenrente. Man braucht die Todesurkunde dafür.«
Das alles hatte zwar nichts mehr mit dem ursprünglichen Grund für sein Gespräch mit Thekla Müller zu tun, aber die Frau tat Walter Dreyer leid. Auch für den Jungen hatte er Verständnis. Vom Geld abgesehen, hatte Heini Müller vielleicht keine Lust mehr, auf einen nicht nach Hause kommenden Vater zu warten. Und seine Mutter könnte etwas Hinterbliebenenrente auch gut gebrauchen. Dafür den Ehemann für tot erklären zu lassen, brachte Thekla Müller offenbar nicht übers Herz. Dreyer konnte da nicht helfen.
»Wann kommt Ihr Junge denn nach Hause?«
Sie schniefte wieder und sah zur Küchenuhr hoch. »Gleich. Er kommt immer mit dem Feierabendbus und geht dann noch auf ein Bier. Ist schon in Ordnung«, beruhigte sie sich selbst.
Dreyer wartete einen Moment, bevor er fragte: »Frau Müller, ist Ihnen am Sonnabend noch etwas aufgefallen? Oder auch an anderen Tagen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich passe immer genau auf, ob ich Fremde sehe. Da war niemand hier. Ist alles so gewesen, wie sonst auch.«
Zu Elvira Bauers Häuschen war es nicht weit. Dreyer beschlich auf dem Weg dahin ein ungutes Gefühl. Er wollte sich persönlich vergewissern, dass mit der kleinen Familie alles in Ordnung war. Zudem musste er aber auch beunruhigende Ermittlungsergebnisse überbringen. Es würde sicher ein emotionales Gespräch werden.
Elvira Bauer war zum Glück allein zu Hause. »Leon zeigt den Kindern einen Film, oben im Gutshaus. Er hat dort einen alten Projektor entdeckt.«
Walter erkundigte sich zunächst: »Wie geht es heute Ihren Kleinen?«
Sie lächelte nicht. »Irgendwie ist es seltsam, wie gut es den Kindern geht. Als wäre nichts passiert. Ich meine, sonst habe ich sie abends kaum ins Bett gekriegt und jetzt freuen sie sich, wenn sie sich unter Leons Decke kuscheln und mir damit eine Freude machen können. Sie streiten auch kaum noch. Ich genieße das richtig. Wer weiß, wie lange das anhält.«
»Schön. Das freut mich wirklich. Ich möchte Ihnen von unseren aktuellen Ermittlungen berichten«, versuchte Walter zur Sache zu kommen.
Unbeirrt fuhr Elvira Bauer fort: »Irgendwie ist es so ein Glück, dass Leon an dem
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