Eisblumen - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners zweiter Fall) (German Edition)
sich sichtbar und wurde ausnehmend freundlich: »Was möchten Sie denn wissen? Das ist ja wirklich kein einfaches Thema.«
»Als ehemaliger Chefarzt dort ...«, vergewisserte Judith Brunner sich.
»Ja?«
»Vielleicht könnten Sie uns mit einigen Hintergrundinformationen helfen? Wenn Sie zunächst von Ihrem Projekt erzählen würden? Fangen wir am besten so an.«
Dr. Meden konzentrierte sich kurz und begann: »Wir wollen versuchen, alle Euthanasie-Opfer der Uchtspringer Klinik benennen zu können, mit Namen und Lebensdaten, Familie, woher sie kamen, und – wenn möglich – ihr Schicksal aufklären. Das ist nicht so einfach, wie es klingt.«
Laura Perch konnte erahnen, was er meinte. Vergleichbare Projekte dieses Ausmaßes hatte sie schon mehrfach im Archiv betreut und den Beteiligten bei ihren Aktenrecherchen geholfen. So sah sie den Mann verständnisvoll an und nickte aufmerksam.
Dadurch ermuntert, fuhr Dr. Meden fort: »Wir hatten noch einige Aufnahmebücher der Stationen, und auch die Patientenakten fanden sich, Tausende. Damit haben wir angefangen und kamen gut voran. Dann gab es noch diverse Transportlisten oder Listen mit Medikamentierungen für einzelne Patienten. Das Ganze konnten wir dann miteinander abgleichen.« Er machte eine kurze Pause. »Sehr geholfen hat uns auch Peter Kreuzer von der Gardelegener Bibliothek. Unsere eigene Bibliothek in der Klinik verdient leider ihren Namen nicht; sie ist ein einziges Durcheinander unkatalogisierter Bände und Hefte, die notdürftig in alten Regalen oder ausrangierten Schränken lagern. Da findet niemand etwas. In Gardelegen in der Stadtbibliothek konnten wir die örtlichen Zeitungen auf entsprechende Todesanzeigen hin auswerten und mit unseren Namen vergleichen. Kreuzer hatte uns sogar extra einen großen Lesetisch direkt ans Regal gestellt.«
»Es gab Todesanzeigen für die Opfer?« Judith Brunner war verwundert.
»Es ist uns sogar gelungen, dazu eine Kartei anzulegen«, zeigte Dr. Meden hinter sich. Er stand auf und ging zu einem alten, hölzernen Karteischrank.
Die Frauen warteten gespannt.
»Sehen Sie, hier zum Beispiel«, legte er ein paar A5-große Karteikarten auf den Tisch.
Sie sahen oben links die mit Schreibmaschine getippten Angaben zur Person: Name, Vorname, Lebensdaten, Wohnadresse vor der Einlieferung in die Klinik. Daneben waren jeweils die Kopien der Todesanzeigen aufgeklebt.
Judith Brunner las verschiedene und reichte sie dann an Laura weiter. »Nach bereits erfolgter Einäscherung« habe man – etwa aus Hoheneck oder Linz – die »Nachricht vom plötzlichen und unerwarteten Tod« erhalten oder »Sein plötzlicher Tod wird uns immer ein Rätsel bleiben«.
Ein wirklich seltsamer Text.
Ehe Judith Brunner fragen konnte, fuhr Dr. Meden fort: »Diese Anzeigen waren eine Möglichkeit des Protestes der Angehörigen. Wenn in relativ kleinen, unbekannten Orten plötzlich so viele Menschen nach unerwarteten Todesfällen eingeäschert wurden, wusste man in der Öffentlichkeit schon Bescheid, wenn man wollte.«
»Und diese Todesanzeigen waren erlaubt?«
»Nein, nein, keineswegs. Doch es brauchte seine Zeit, bis die Zensur das alles bemerkte.«
Dr. Meden stand auf und holte aus dem großen Wandregal einige Papiere. »Sehen Sie, hier zum Beispiel«, deutete er auf eine Kopie, »da ist ein besonderer Stempel.«
Judith Brunner las in dem Rund »Sonderstandesamt Be« und eine Siegelnummer. Sie sah Dr. Meden auffordernd an.
Der dozierte los: »Das Be steht für die Landespflegeanstalt in Bernburg, die Abkürzung war eine Tarnbezeichnung. Solche Sonderstandesämter wurden in den Anstalten eingerichtet, die Patienten massenhaft töteten und folglich für die Beurkundung des Todesfalls nicht das nächstgelegene Standesamt nutzen konnten. Diese Sonderstandesämter hatten den Sterbefall zu beurkunden, Nachlassfragen zu regeln, die Urnen zu versenden, Behörden zu benachrichtigen und die Kosten zu regeln. In diesem Fall nun ist interessant, dass diese Urkunde zu einem Sterbefall vom Sonderstandesamt in Bernburg ausgestellt wurde, obwohl der Patient ja in der hiesigen Privatklinik verstarb und unser Gardelegener Standesamt zuständig gewesen wäre.«
»Das könnte also ein Beleg für Ihre Vermutung sein, dass irgendetwas mit dem Tod dieses Patienten nicht stimmt.«
»Genau.« Dr. Meden freute sich, dass die Hauptkommissarin ihm folgen konnte. »Außerdem sind die Standesamtsangaben von damals nicht immer zuverlässig, weil man manchmal den Todestag
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