Eisblumen - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners zweiter Fall) (German Edition)
Wieder in ihrer Dienststelle wurde Judith Brunner gleich von Lisa Lenz informiert: »Wir haben den Dampmann hier.« Sie wies mit dem Kopf nach rechts. »Und die Karoline Neubauer hat für den Mittwoch ein Alibi. Mitarbeiter im Lokal in ›Feine Sache‹ haben sie wiedererkannt. Sogar der Busfahrer konnte sich an sie erinnern. Das Mädchen hat ihm wohl gefallen.«
Auf Judiths Schreibtisch lag bereits die Liste von Franz Rausch. Wenn es etwas ruhiger werden würde, könnte sie noch bei ihm anrufen, um sich für seine prompte Hilfe zu bedanken. Doch sämtliche seiner aufgeschriebenen Themen brachten keine neuen Erkenntnisse. Von irgendwelchen heimatgeschichtlichen Forschungen zur NS-Euthanasie war dem Vorsitzenden des Geschichtsvereins augenscheinlich nichts bekannt.
Lisa Lenz erschien mit Kaffeegeschirr auf einem kleinen Tablett. »Dr. Renz möchte, dass Sie ihn anrufen, es sei wichtig«, teilte sie mit, während sie Kaffee einschenkte. Diskret verschwand sie aus dem Büro.
Judith wählte und hatte Dr. Renz gleich am Apparat.
»Guten Tag, Frau Kollegin, nett, dass Sie zurückrufen. Ich hätte gern etwas mit Ihnen besprochen.«
»Nur zu.«
»Na, Sie klingen ja nicht begeistert.«
»Oh, entschuldigen Sie bitte. Ich habe nur ein längeres Gespräch über die NS-Euthanasie in der Klinik Uchtspringe hinter mir.«
»Ja, das baut nicht gerade auf. Ich verstehe.«
»Zumal ich mir nicht sicher bin, ob wir schon alles Wissenswerte gehört haben. Laura Perch hat mir von Menschenversuchen erzählt. Da möchte ich im Kontext unserer aktuellen Fälle lieber gar nicht drüber nachdenken.«
»Na, indirekt gibt es diesen Zusammenhang bei Unterkühlung und Erfrierungstod eigentlich immer.«
»Wie meinen Sie das?« Judith klang angespannt.
»Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht beunruhigen. Ich meine das eher bezogen auf das Metier der Rechtsmedizin, denn es gehört zu den traurigen Tatsachen meiner Disziplin, dass auch heute noch die meisten Erkenntnisse über den Erfrierungstod, im Prinzip überhaupt zur Thermoregulation des Menschen, den Experimenten der Nazis an KZ-Häftlingen oder eben Klinikpatienten entstammen.«
»Oh«, konnte Judith nur bemerken.
»Als junger Rechtsmediziner hatte ich mal als Gutachter vor Gericht auszusagen. Es war der Fall eines erfrorenen Mannes, den man halb nackt in einer Grünanlage gefunden hatte. Na ja, die Sache war recht knifflig. Von meiner Obduktion hing eine Menge ab. Ich habe mich dann also entsprechend intensiv belesen und dabei mit Erschrecken festgestellt, woher das Wissen der Medizin zum Kältetod stammt. In den Akten der Nürnberger Prozesse kann man die widerwärtigen Einzelheiten nachlesen.«
»Wie schrecklich.«
»Aber Uchtspringe ist im Zusammenhang mit den Kälteversuchen nicht bekannt geworden. Insoweit kann ich Sie beruhigen.«
»Haben Sie vielen Dank, Dr. Renz. Schon haben Sie mir wieder etwas geholfen. Dabei hatten Sie doch eine Bitte an mich«, erinnerte sich Judith Brunner.
Dr. Renz nahm es gelassen. »Schon gut. Also, mit dem Leichnam von Wolff ist nun untersuchungstechnisch alles erledigt. Es stellt sich die Frage, wem ich ihn denn nun übergeben kann?«
»Herrje!« Daran hatte Judith Brunner überhaupt noch nicht gedacht.
»Ja, mir liegt irgendwie schon daran, ihn wieder loszuwerden.«
»Das kann ich wirklich verstehen, Dr. Renz. Jedoch habe ich meine Zweifel, dass sich dafür jemand freiwillig finden wird.«
»Was ist mit seiner Familie? Er war, wie ich hörte, wohl mal verheiratet. Und er hat eine erwachsene Tochter.«
»Im Prinzip ist das richtig. Aber seine geschiedene Frau hat ihn zwanzig Jahre nicht gesehen. Sie wollte nie wieder etwas mit ihm zu tun haben und seine Tochter wäre zwar alt genug, ist aber bei Weitem nicht erwachsen.« Judith überlegte kurz, dass ihr so etwas schon öfter aufgefallen war, und fragte laut: »Warum bloß wollen die jungen Leute heute nicht mehr erwachsen werden?«
Dr. Renz wusste sogar eine Antwort: »Ich denke, das alles ist ein großes Missverständnis. Die wollen nur nicht alt werden.«
»Hm, das kann gut möglich sein. Ein ersehntes oder zumindest ein gut versorgtes Kind bleiben, ewig bewundert in der Welt der Alten.«
»Das bietet sicher einige Vorteile.«
»Ja schon. Nichtsdestoweniger wollen wir doch alle uralt werden, ich meine von den Lebensjahren her?«
»Liebe Frau Brunner, das wird mir jetzt zu anstrengend. Haben Sie bitte Nachsicht mit einem«, er zögerte humorvoll, »hm, alten Mann, wenn ich mir das
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