Eisblumen - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners zweiter Fall) (German Edition)
Judith und Walter folgten ihm in das gegenüberliegende Zimmer. Der Raum sah deutlich bewohnter aus; er diente als Arbeits- und Wohnzimmer. Ein Sofa und ein Sessel standen nahe beim Kachelofen, davor ein Nierentisch. Am linken Fenster befand sich ein Arbeitsplatz mit einer mechanischen Schreibmaschine älteren Baujahrs und einem Konservenglas voller Stifte und Scheren. Den Zwischenraum zum anderen Fenster füllte ein Regal aus. Bis auf ein paar Aktenordner, Rollen von Bindfäden und etwas Schreibpapier war es leer. Eine sehr hübsche Anrichte neben dem rechten Fenster fand sofort Judiths Aufmerksamkeit: Sie war voller Bücher. Nicht nur im unteren Schrankteil, sondern auch im Aufsatz mit den geschliffenen Glastüren waren Bücherstapel zu sehen. Sie konnte viele lederne, geprägte Rücken erkennen; auch einige Bände mit Goldschnitt. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, konnte sie durch die Scheibe lesen: »Das neue Buch der Erfindungen, Gewerbe und Industrien. Rundschau auf allen Gebieten der gewerblichen Arbeit«.
»Hier sind eine Menge Kartons«, rief einer der Kollegen vom Dachboden herunter, »aber alle leer.«
Judith stieg dennoch die schmale steile Treppe, die von der Küche aus nach oben führte, hinauf. Zusammengefaltet lagen hier mehrere gründlich zusammengeschnürte Pakete Pappe.
»Die wollte er wohl irgendwann verkaufen«, meinte Dr. Grede, der ihr hinterher gekommen war, »da liegen schon ein paar Mark.«
»Was ich nicht nachvollziehen kann, ist, dass sich das Geschäft mit den Pappkartons wirklich ausgezahlt haben soll. Dampmann betrügt seine Arbeitsstelle für ein paar Mark? Das lohnt sich finanziell kaum. Warum geht der dafür so ein Risiko ein?«, wandte Judith Brunner ein.
»Dampmann geht überhaupt kein Risiko ein. Er bringt regelmäßig auch mal leere Kartons zum Container der Post, damit von dort nichts zu befürchten ist. Außerdem hat er gesagt, dass er verschiedene Sammelstellen anfuhr. Wer sollte da was merken?«
»Was wäre, wenn das gar nicht stimmt?« Judith Brunner war noch ein anderer Gedanke gekommen.
»Das können wir doch sicher irgendwie überprüfen? Wozu sollte er denn sonst die olle Pappe sammeln?«
»Nein, nein, Dr. Grede. Ich meine, ob das geringe Zubrot wirklich sein Motiv für das Pappesammeln ist. Was wäre«, sie machte eine Pause, »was wäre, wenn das nur als Mittel zum Zweck dient? Nämlich, um an die alten Bücher ranzukommen?«
»Sie meinen, er verkauft denen beim Altstoffhandel die Pappe und nimmt abgegebene alte Bücher mit?«
»Mehr ist hier oben aber nicht zu sehen«, wurden Judith und ihr Kollege freundlich wieder hinunter komplimentiert, damit die Spurensicherung ihre Fotoutensilien hochbringen und auspacken konnte.
»Ihre Idee mit den Büchern ist nicht uninteressant, Frau Brunner, erstaunt mich aber schon. Dampmann schien mir nicht sehr belesen zu sein«, wunderte sich Dr. Grede, als er mit seiner Chefin und Walter Dreyer am Nierentisch Platz genommen hatte, um den Technikern nicht im Weg zu stehen.
Walter Dreyer war sich sicher: »Der liest die auch nicht, die liegen irgendwie nur da, noch dazu in Stapeln. Bücher, die man schätzt, stehen eigentlich im Regal oder im Schrank, und man kann die Titel lesen.«
»Was ist mit seinem Schlafzimmer?«, fragte Judith.
»Kein einziges Buch, nur Gartenzeitungen und Krimiheftchen«, wusste Dr. Grede.
»Irgendwas stimmt da nicht! Haben Sie irgendein neues Buch gesehen? Eines, das er letzten Monat gekauft haben könnte? Nein. Alles nur antiquarisch, wenn ich mal so sagen darf.« Das war Judith Brunner gleich als Erstes aufgefallen.
»Vielleicht gehörten sie seiner Mutter?«, warf Ritter ein, der das Gespräch beim Fotografieren mit verfolgte.
Judith kam der Gedanke so plötzlich, dass sie alle verblüffte: »Er verschickt sie! Das ist es! Denken Sie an die vielen Kartons. Der Mann handelt damit!«
Einen kleinen Moment blieb es ruhig.
»Könnte sein, Chefin«, sprach Thomas Ritter sie erstmals direkt an.
»Genau!«, stimmte ihr dann Walter Dreyer zu und auch Dr. Grede nickte anerkennend.
»Jedenfalls ist das kein Grund, den Dampmann irgendwie zu verdächtigen«, wies Ritter die eben noch erfreute Runde auf den Haken an ihrer Theorie hin, »jeder kann Bücher verkaufen, oder?«
Aber ehe sich Enttäuschung breitmachen konnte, korrigierte ihn Walter Dreyer: »Nur wenn er es als Gewerbe angemeldet hat – dann ja. Und auch nur, wenn die Bücher ihm gehören.«
»Du meinst, er hat sie geklaut?«
»Keine
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