Eisblumen - Ein Altmarkkrimi (Judith Brunners zweiter Fall) (German Edition)
sich erneut eine lange Häuserwand anschloss. Auf beiden Seiten des Tores war an den Wänden jeweils ein großes Schild befestigt, auf dem ein rotes Elefantenmädchen plakativ ermunterte: »Sammelt mit Emmy«. Viele Passanten würde diese Aufforderung wohl nicht ansprechen, mutmaßte Judith, die weit und breit keinen Menschen sah. Eine schmale, offen stehende Tür neben dem Einfahrtstor bot die Möglichkeit, auf das Betriebsgelände zu sehen. Gleich hinter dem Tor war ein Pförtnerhaus. Ein Gabelstapler fuhr eine Gitterbox mit Papier irgendwohin. Judith las ein weiteres Schild: »Aufkaufpreise für die Bevölkerung: Zeitungen, Zeitschriften, Wellpappe 0,30 M/kg; Gemischte Papier- und Pappabfälle, Bücher 0,20 M/kg; Flaschen und Gläser 0,05 M/Stück, ausgewiesene Sorten auch 0,30 M/Stück; Stahlschrott 0,12 M/kg, Kupferschrott 2,50 M/kg; ...«
»Hallo, junge Frau, kann ich Ihnen helfen? Heute ist erst nachmittags Annahme von privat.« Der Pförtner hatte sie entdeckt.
In dem Moment holperte ein betagter Lkw mit Hänger die Straße hinauf und der Mann verschwand aus ihrem Blickfeld, um das Tor zu öffnen. Vorsichtig schwenkte das Fahrzeug in die Einfahrt und blieb mit der Zugmaschine auf einer Bodenwaage stehen, die sich gleich vor dem Pförtnerhäuschen befand. Der Fahrer wartete dort einen Moment, bis der Pförtner ihm etwas zurief, und fuhr dann weiter vor, sodass der Hänger gewogen werden konnte. Das Fahrzeug war mit Pappe und Kartonagen beladen. Der Pförtner winkte es weiter, schloss das Tor und wandte sich erneut an Judith: »Sie müssen heute Nachmittag wiederkommen.«
»Guten Tag, ich wollte nichts abgeben. Ich möchte gern den Chef sprechen.«
Das trug ihr zwar einen scheelen Blick ein, dennoch traute sich der Mann nicht nachzufragen und winkte sie heran. »Komm Se mal her!«
Jetzt übersah Judith Brunner das Betriebsgelände: Parallel zu den Gleisanlagen und von diesen durch eine marode Mauer getrennt, befanden sich mehrere hoch überdachte Hofplätze. Die langen Gebäude, die straßenwärts gelegen waren, verfügten über haushohe Schiebetore und Rampen. Ganz am Ende war eine Bürobaracke angebaut worden. »Da hinten isser«, wies ihr der Pförtner mit einem Nicken den Weg zu dem Flachbau, aus dessen nicht sehr solide wirkender Eingangstür gerade ein stattlicher Mann trat.
Judith Brunner beeilte sich, in seine Nähe zu gelangen. »Hallo, bitte warten Sie! Ich würde Sie gern sprechen.«
Sie stellte sich als Hauptkommissarin vor.
»Hat wieder einer was angestellt?«, fragte der Mann, nicht gerade überrascht und in resigniertem Tonfall, und ging, ohne auf eine Antwort zu warten, zurück in die Baracke. Einladend hielt er die mit sich wellender Holztapete bezogene Barackentür auf.
Ein langer schmaler Flur verband diverse Kabuffs. Hinter der ersten Tür sah Judith einen verlassenen Pausenraum. Nur ein paar Brotbüchsen und eine Zeitung lagen auf dem Tisch. Auf dem Kühlschrank stand eine Kaffeemaschine und hielt in einer Glaskanne das Getränk warm.
Es folgte eine Tür »Buchhaltung und Personal« und dann ging der Mann in sein Büro. »Wer isses denn diesmal?« Das klang nicht so, als würde er es wirklich wissen wollen.
»Darf ich mich setzen, Herr ...?«, fragte Judith Brunner höflich.
»Kuserke. Achim Kuserke. Bitte, nehmen Sie Platz. Möchten Sie etwas trinken?«
Judith Brunner befürchtete, von dem sicher seit Stunden wartenden Kaffee im Pausenraum angeboten zu bekommen, und lehnte vorsichtshalber ab.
»Der Ärger hört nie auf, verstehen Sie? Da denkt man, es ist überstanden. Dann baut wieder einer Mist.«
»Ich bin nicht wegen einer aktuellen Straftat Ihrer Leute hier, Herr Kuserke. Mir geht es um ein paar grundsätzliche Auskünfte in einer anderen Angelegenheit.«
»Na, da bin ich aber erleichtert. Sie wissen ja, hier arbeiten nicht unbedingt die Stützen der Gesellschaft.«
Judith Brunner verstand, was er meinte. Beim Altstoffhandel ballten sich Personalprobleme. Gute Leute zu bekommen, war schon für besser zahlende und interessantere Branchen in der volkseigenen Wirtschaft nicht einfach. Die Arbeit war körperlich anspruchsvoll, bei Wind und Wetter zu erledigen und auch nicht immer sauber. Für Anlernkräfte gut zu bewältigen, bekamen Leute, die aus dem Gefängnis entlassen wurden, oftmals diese Art der Beschäftigung von staatlicher Stelle aus zugewiesen. Schlechte Wohnungen, Schulden und Alkoholmissbrauch gehörten für viele von ihnen zum Alltag.
»Manche schaffen es
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