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Eisblut

Eisblut

Titel: Eisblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Heib
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unter der Lupe.
    Â»Das gibt’s doch gar nicht«, entfuhr es ihm. Er sprang auf, griff
nach seiner Jacke, die er neben sich abgelegt hatte und stürmte zur
Eingangstür.
    Â»Kann mir mal einer sagen, wer oder was auf dem verdammten Foto
ist?«, rief Pete ihm hinterher. Aber Christian war schon zur Tür raus. Pete und
Eberhard starrten das Foto an. Pete nahm die Lupe. Er war plötzlich richtig
sauer. »Da muss irgendjemand drauf sein, den Anna erkannt hat. Und Chris auch.
So ein Mist, wieso rennen die weg, ohne den Mund aufzumachen?«
    Als Martin zum zweiten Mal erwachte, saß nur Volker bei
ihm am Bett. Herr und Frau Abendroth waren in die Krankenhauskantine gegangen,
um etwas zu essen. Martin schien nicht klarer als beim ersten Mal, in seinem
Blick lag Wahnsinn, lag die völlige Abwesenheit von Verstehen. Er stöhnte
qualvoll und wand sich schwitzend hin und her, soweit seine Schmerzen das
zuließen. Volker versuchte die Bergung der irrlichternden Seele wiederum durch
das Festhalten des Blicks, durch leises, beruhigendes Sprechen, durch das
Halten der Hand. Es dauerte einige Minuten, bis das zertrümmerte Ich Martins
Bruchstücke seiner selbst wiederfand und wenigstens teilweise zusammenfügen
konnte. Was Volker dann entgegenblickte, war wie ein kubistisches Porträt von
Picasso: Alles wirkte verzerrt, verschoben, kantig, falsch komponiert, aber das
Wesenhafte trat dadurch umso deutlicher hervor.
    Martin sah Volker flehentlich an, als bitte er ihn um Hilfe, den
früheren Zustand unschuldiger Ahnungslosigkeit wiederherzustellen, von dem er
fühlte, dass er ihn für immer verloren hatte. Noch nie war Volker einer solchen
Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit begegnet. Aber es schrie noch etwas
anderes, ebenfalls sehr intensives aus dem Blick: Angst. Nackte, pure Angst.
    Martins Hand krallte sich in Volkers Hand, was wegen der
ausgerissenen Nägel sicher sehr schmerzhaft war. Er versuchte zu sprechen, doch
nur ein qualvolles Röcheln kam über seine Lippen. Die Augen füllten sich mit
Tränen. Dann verlor sich Martin wieder, wurde von einem Strudel, stärker als
alles, was von ihm übrig war, in den dunklen Abgrund der Angst zurückgezogen.
    Volker stand auf und lief nach draußen. Er wollte etwas zu schreiben
besorgen, denn er war sicher, dass Martin hatte sprechen wollen, es aber wegen
seiner Verletzungen nicht konnte. Er würde ihm einen Stift und Papier besorgen,
ihn zurückholen in die Welt der Lebenden und dort halten.
    Als Volker nur knappe zwei Minuten später ins Krankenzimmer
zurückkam, hatte sich Martin von seinem Nachttisch den Lippenstift genommen,
den er aus dem Bunker mitgebracht hatte. Unbeholfen, schwitzend, zitternd und
mit panisch geweiteten Augen schmierte er in großen Buchstaben auf die
Bettdecke. Er hielt den Lippenstift ungelenk zwischen den mittleren
Fingerknöcheln und stöhnte vor Schmerz und Anstrengung. Er war beim dritten
Versuch angelangt, bei der dritten Wiederholung. Volker stellte sich neben ihn,
sodass er lesen konnte, was da in blutroten, fetten Buchstaben in drei Reihen
untereinander stand:
    ad bestias
    ad bestias
    ad bestias
    Anna stand im Stau auf der Elbchaussee in Nienstedten.
Weit war sie noch nicht von ihrem Elternhaus entfernt, dabei wollte sie
möglichst schnell möglichst viele Kilometer zwischen sich und ihren Vater und
dessen Vergangenheit bringen. In den letzten Monaten hatte Anna tatsächlich gehofft,
sie könne ihr zwiespältiges Verhältnis zu ihrem Vater vielleicht langsam
verbessern, sie könne irgendwann halbwegs vergessen, dass er jahrelang ihre
Mutter geschlagen hatte in seltenen, aber umso heftigeren Anfällen von Jähzorn.
Sie könne ihm irgendwann verzeihen, dass er der war, der er war, und dadurch
ihre naive Liebe zu ihm unmöglich gemacht hatte. Jetzt war dieser vagen
Hoffnung der finale Dolchstoß versetzt worden.
    Anna brachte den liebevollen, fürsorglichen Vater, der er ihr in
ihrer Kindheit gewesen war, einfach nicht zusammen mit dem Mann, der mit
wissenschaftlicher Akribie Folterwerkzeuge verbesserte und Gewalt gegen die
Frau ausübte, die er früher einmal geliebt hatte und es vielleicht immer noch
tat. Wieder hatte sie dieses schreckliche Gefühl, von ihm betrogen worden zu
sein, verlassen worden zu sein, er war wieder einmal nicht der, den sie liebte,
und sie hasste ihn erneut dafür.
    Der Verkehr rollte im leichten Nieselregen nur im

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