Eisblut
Stop-and-go in
Richtung Innenstadt. Als sich Anna nach zwanzig Minuten und mickrigen zwei
Kilometern dem Haus von Professor Gellert näherte, kam sie auf die Idee, ihn
über das Schicksal seines Lieblingsstudenten in Kenntnis zu setzen. Gellert
würde Martin Abendroth sicher im Krankenhaus besuchen wollen. Sie würde eine
Tasse Tee mit Gellert trinken, falls er zu Hause war, sich von ihrem Vater
ablenken, und danach würde sich der Stau aufgelöst haben. Anna bog in Gellerts
granitgepflasterte Einfahrt. Gellerts Garage stand offen, aber sie war leer.
Anna überlegte, ob sie gleich wieder wenden sollte. Doch bevor sie sich
entschied, kam Gellerts Haushälterin, Luise Juncker, fröhlich winkend aus dem
Garten auf sie zu. In der Hand trug sie ein Bündel Kräuter. Anna stieg aus.
»Hallo, Frau Maybach, das ist aber nett, dass Sie uns besuchen. Ich
habe ihr Auto gehört. Der Herr Professor ist leider nicht da, aber Sie müssen
unbedingt einen Kaffee mit mir trinken.«
Die herzliche Aufforderung lieà Anna keine Wahl. Sie folgte der
unaufhörlich plappernden Luise ins Haus, lernte auf dem Weg von der Auffahrt
bis zur Küche alles über die Zusammensetzung und Herstellung von Frankfurter
SoÃe, und bekam weitere fünf Minuten später zwar keinen Kaffee, aber einen
heiÃen Kakao mit Schuss vorgesetzt, eine kleine Programmänderung, die Luise für
äuÃert empfehlenswert hielt, auch und vor allem in ihrem eigenen Interesse.
Anna fühlte sich sofort wohl in der Obhut der alten Dame, auch der Kakao tat
gut, und der Schuss Rum darin half ihr zu entspannen.
Inzwischen war Christian im Haus von Annas Eltern angekommen.
Er stand im Arbeitszimmer bei Walter, genau wie Anna kurz vor ihm.
»Wo ist Anna? Und woher kennen Sie David Rosenbaum?«
Walter bot Christian Platz an. Er hatte jetzt nichts mehr zu
verlieren, Anna würde Christian die Zusammenhänge sowieso erklären.
»Anna haben Sie verpasst, die ist vor etwa einer halben Stunde weg.
Aber da Sie nach ihr fragen, nehme ich an, Sie sind noch nicht von ihr
informiert.«
Christian fiel auf, wie schlecht Annas Vater aussah. Er wirkte
fahrig, müde und kraftlos, ganz anders als bei dem gemeinsamen Mittagessen, bei
dem er den intellektuellen Zampano gegeben hatte, bis Anna ihm in die Parade
gefahren war. Fast erschien es Christian zwingend, dass Anna auch diesmal nicht
unschuldig war am Zustand ihres Vaters.
»Anna ist seit Stunden nicht zu erreichen. Und Rosenbaum, der auf
einem alten Foto an Ihrer Seite abgebildet ist, lag monatelang als Leiche im
Sachsenwald herum. Unter diesen Umständen können Sie sich sicher vorstellen,
wie brennend mich die Zusammenhänge interessieren.«
»Rosenbaum ist tot? Davon hat Anna nichts gesagt.«
»Sie wusste es nicht. Ich weià es selbst erst seit Kurzem. Was haben
Sie Anna erzählt?«
Walter lehnte sich zurück und wiederholte ohne Zögern seinen
Bericht.
Luise Juncker zeigte sich schockiert über das Grauen, das
Martin zugestoÃen war, obwohl Anna ihr die schlimmsten Details verschwiegen
hatte. Jedenfalls war Annas Bericht Frau Juncker Anlass genug, sowohl sich
selbst als auch Anna einen kräftigen Schluck Rum in den Kakao nachzugieÃen.
»Was für ein Elend, der Herr Professor wird bestürzt sein. Der junge
Herr Abendroth ist sein Lieblingsstudent und war häufig hier im Hause. Auch
Franziska mochte ihn gerne, sie hatte geradezu einen Narren an ihm gefressen.«
Anna kam auf eine verwegene Idee: »Verzeihen Sie, Frau Juncker, wenn
ich so indiskret bin. Aber Martin hat mir erzählt, dass Frau Gellert ihren Mann
wegen eines erheblich Jüngeren verlassen hat. Aber sie hatte doch kein ⦠hatte
sie ein Verhältnis mit Martin Abendroth?«
Frau Juncker lachte hell auf: »Mit dem Bengelchen? So ein Blödsinn!
Das mit dem jüngeren Mann war ein Gerücht. Was die Leute sich eben so
zusammenreimen, man will das gar nicht wissen. Der Mann war jünger als der
Professor, das stimmt, aber älter als Franziska.«
»Aber wer war es denn? Kennen Sie ihn?«
Mit einer Geste der Verschwiegenheit beugte sich Luise Juncker nach
vorne und sprach leise, als hätten die Wände Ohren: »Das ist doch das
Tragische, Frau Maybach. Der Herr Professor weià nicht, dass ich es weiÃ. Aber
Franziska hat mir immer ihr Herz ausgeschüttet. Der Mann, mit dem sie
weggelaufen ist, war ein alter Freund vom
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