Eisblut
hochprozentiger
Alkohol, und ohne Geist machte das Quälen des Körpers keinen SpaÃ. Der Penner
war schon gebrochen gewesen durch sein elendes Leben und den Suff. Kein echter
Wille, einfach nur wachsweiche Masse, die sich nicht aufbäumte, um irgendwie
doch am Leben zu bleiben und sei es ohne Arme, ohne Beine, ohne Würde, ohne
alles, Hauptsache, am Leben. Doch dem schien es egal zu sein. Seine Schreie
waren lediglich unwillkürliche Reaktionen des Rückenmarks, und es war nicht mal
ansatzweise möglich gewesen, ihn langsam und genussvoll durch den Prozess zu
führen. Den Prozess von unbedingtem Lebenswillen bis hin zum Betteln nach der
Erlösung durch den Tod. Der Typ hatte sich sofort aufgegeben, denn er hatte
schon vor langer Zeit aufgegeben. Ãrgerlich. Der Mann will Widerstand, echten,
lebendigen Widerstand, den er langsam, ganz langsam und mit Bedacht brechen
kann.
Missmutig schaltet er den Film aus. Seine guten Filme sieht er sich
gerne vier- bis fünfmal an, dann hat er sie in seinem inneren Archiv
abgespeichert und kann sie jederzeit abrufen. Glücklicherweise besitzt er ein
phantastisches visuelles Gedächtnis, denn die Aufnahmen löscht er immer noch am
gleichen Abend. Er ist nicht so dumm, Beweismaterial herumliegen zu lassen.
Christian saà an einem Tisch im hinteren Bereich des
Restaurants. Er hatte sich sorgfältig rasiert und trug ein gebügeltes Hemd
unter seinem ausgebeulten Breitcordsakko. Mehr Ehre konnte er ihr nicht
erweisen. Als Anna mit zurückhaltendem Lächeln zu ihm an den Tisch trat, erhob
er sich und begrüÃte sie unbeholfen mit Handschlag.
»Hallo«, sagte er, »schön, dass du kommen konntest.«
»Yvonne hat gesagt, du bist wieder dabei«, eröffnete Anna das
Gespräch möglichst unverbindlich.
»Blödsinn, so kann man das nicht formulieren. Nur ⦠der Fall
interessiert mich ⦠aus diversen Gründen. Ich war nur kurz im Büro, um ⦠um mich
auf Stand zu bringen. Ganz privat. Aber ich bin nicht dabei !
Wenn die Sesselfurzer aus den oberen Etagen hören, dass ich meine Nase in die
Ermittlungen reinstecke, bekommen alle einen Mordsärger.«
»Warum tust duâs dann?«, fragte Anna unerbittlich.
Christian zuckte die Schultern: »Warum bist du mit Pete zu dieser
Iranerin gefahren? Ich dachte, du wolltest nie wieder was mit Mord und
Totschlag zu tun haben. Und auch nicht mit Polizisten.«
»Trotzdem sitze ich hier. Vermutlich bin ich vergesslich. Oder
unbelehrbar. Beratungsresistent. Schlichtweg dumm.«
Christian grinste: »Anders kann ich mir das auch nicht erklären.«
Die Kellnerin unterbrach das Geplänkel, um die Bestellung
aufzunehmen. Christian hatte schon gewählt, Anna musste nicht in die Karte
sehen, sie nahm den Klassiker: Spaghetti in extrem scharfer Chili-SoÃe.
Bis Anna ihr erstes Bier bekam, schwiegen sie lange. Anna wartete
ab, ob Christian tatsächlich nur Informationen über das Gespräch mit Frau
Hamidi abfragen wollte, und Christian wusste nicht, wie er das, was ihm auf dem
Herzen lag, angehen konnte. Das Bier kam nach endlosen Minuten, sie stieÃen an
und vermieden dabei, sich allzu lange in die Augen zu sehen.
»Wie war es in Kanada?«
»Ein weites Land.« Anna war ganz offensichtlich nicht in der
Stimmung für pittoreske Urlaubsanekdoten.
Wieder schwiegen sie, Christian eher hilflos, Anna in ihrem Stuhl
scheinbar souverän zurückgelehnt und mit abwehrend verschränkten Armen. Doch
sie spürte mit jeder Sekunde deutlicher, wie sehr sie ihn damit quälte, wie
sehr er ihre Hilfe brauchte. Sie spürte es an seinem ausweichenden Blick, an
der hektischen Art, mit der er sein Bier trank. Und sie spürte, wie sie weich
wurde, wie sie sich zu ihm hingezogen fühlte, am liebsten um den Tisch
herumgegangen wäre, um ihn in die Arme zu nehmen und von ihm in die Arme
genommen zu werden und zu sagen und zu hören, dass alles gut wäre.
»Ich habe versucht, dich zu vergessen«, sagte sie leise.
Mit einer unentschiedenen Mischung aus Dankbarkeit für das
emotionale Angebot und Angst vor dem nächsten Satz lächelte er sie schief an:
»Und? Ist es dir gelungen?«
Sie lächelte zurück: »Was hast du denn die letzten Monate
getrieben?«
»Nachgedacht. Und mich beschimpft. Weil ich so ein Idiot war. Ich
habe die wunderbarste Frau, die mir je begegnet ist, systematisch
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