Eisenherz - Förg, N: Eisenherz
die seine Tochter vergewaltigt hatten? Und Holzer, der so wütend beteuerte, dass der Brief eine Lüge sei. Musste der nicht so reagieren, musste er nicht verdrängen, um weiterzuleben? In seinem Kopf, von irgendwoher, hörte Gerhard Falco. »Muss ich denn sterben, um zu leben?« Warum war Steffis Mutter tot? Ende der achtziger Jahre? Das war doch die Zeit der Hedonisten-Generation gewesen. Auch seine Welt war das gewesen, eine Jugend, die so bunt und vielversprechend all ihre Möglichkeiten ausgebreitet hatte. Alle waren so locker gewesen. Oder doch nicht? Weil in den Dörfern hinter den Fassaden noch die gleichen ungesunden, spießigen, grausamen Gedanken wohnten wie vor hundert Jahren. Weil die gesunde Dorfseele bis heute ihr subtiles Terrorregime führte. Das war im Allgäu so, hier in seiner neuen Heimat und am Lech. Anders sein machte Angst, und es rief Neid hervor. O ja, das konnte er sich gut vorstellen.
Da war eine ausgebrochen aus der Enge. Isabella hatte wahrscheinlich nicht eingewilligt in das jahrhundertealte gut funktionierende System, einen Dorfburschen zu heiraten. Oder maximal einen aus den Nachbargemeinden. Sie hatte nicht eingewilligt in Trachtenverein, Musikkapelle und Frauenbund. Nicht eingewilligt in die Einheimischenmodelle hinter den Wällen. Sie war nach Paris gereist. Ganz allein, einem Franzosen hinterher. Neidisch waren sie im Dorf gewesen. Klar! Und mutlos, angepasst, unzufrieden, stillgestanden! Und hatten beschlossen, Isabellas Verfehlungen zu rächen. Zwei von denen hatten eine Idee … Verdammt, wenn das wirklich Veit und Dietrich gewesen waren! Trotzdem verstand er das nicht. Warum war Isabella nicht zur Polizei gegangen? Sie hatte ein dreijähriges Kind gehabt, das war doch eine Verantwortung!
Gerhard reichte Evi den Brief und beobachtete sie beim Lesen. Ihr traten Tränen in die Augen. Gerhard wusste, dass sie noch lange reden würden über Isabella Holzer. Sich nie einig würden in ihrer Einschätzung über Suizid. Baier hatte inzwischen längst einen Krankenwagen und eine Streife angefordert. Auch er las und stand dann ganz unwirsch auf.
»Herr Holzer, Sie sind verhaftet. Ich lass Sie erst mal ins Krankenhaus bringen.«
Holzer schwieg weiter.
Sie alle schwiegen, bis Arzt und Kollegen eingetroffen waren. Baier sah auf die Uhr.
»Holzer, Steffi ist gar nicht zur Apotheke, oder? Wo ist sie?«
Holzer sagte kein Wort.
»Holzer, wenn ihr was passiert, dann gnade Ihnen Gott. Dann haben Sie Ihre Enkelin auch noch verloren. Wo kann sie sein?«
»In Gschwend ist eine kleine Kapelle, da geht sie gerne hin.«
Holzer sprach zur Decke.
Die Kollegen führten Holzer ab. Gerhard, Baier und Evi standen mitten im Schlafzimmer. Es war kalt.
»Wie kann er nur so sein? Wie kann er einfach verdrängen, dass seine Tochter vergewaltigt wurde? Wie kann er immer noch dran festhalten, dass der Franzose schuld ist?« Evi war sichtlich aus der Bahn geworfen.
»Er kann, er muss«, sagte Baier.
»Und was wird aus ihm?«
»Wird auf den Richter und die Anwälte ankommen. Die Ergebnisse der Spurensicherung belegen seine Aussagen ja, wahrscheinlich war es ein Unfall bei Lepaysan. Frau Straßgütl, lassen Sie das nicht so an sich ran.« Baier versuchte, sie aufzumuntern.
»Und Steffi? Wird sie das verkraften können?« Evi wollte sich nicht aufmuntern lassen.
»Sie wird«, sagte Gerhard, obwohl er keine Ahnung hatte, warum er das sagte. Nur, um Evi zu beruhigen. Oder sich selbst. »Wir müssen sie finden. Baier, wo ist Gschwend?«
»Nicht weit, wenn es das Gschwend ist, das ich meine. Los, kommen Sie!«
Baier raste südwärts, über die Echelsbacher Brücke. Kurz überfiel Gerhard ein Gedanke: Was, wenn sie gesprungen war von dieser unseligen Brücke? Aber der Polo war nirgends zu sehen. Beim Brückenwirt bog Baier ab, seine Reifen quietschten. Das Auto holperte über einen unasphaltierten Weg zwischen drei Bauernhöfen. Es schepperte nach links. Dann war die kleine Holzkapelle zu sehen. Der Polo parkte davor, Steffi saß regungslos auf dem Fahrersitz, die Tür war offen.
Was, wenn sie …? Die drei stürzten aus dem Auto. Steffi sah sie an. »Was ist mit meinem Opa? Sie haben ihn verhaftet.«
Baier nickte. Er war vor ihrer geöffneten Tür in die Knie gegangen.
»Steffi, er wollte Sie schützen! Er hat das alles nur getan, damit Sie sich nicht mit einem Franzosen einlassen, verstehen Sie? Er hat anfangs versucht, die Ritter zu vertreiben. Indem er ein Pferd gestohlen, ihnen Kotztropfen
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