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Eisenherz - Förg, N: Eisenherz

Eisenherz - Förg, N: Eisenherz

Titel: Eisenherz - Förg, N: Eisenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Förg
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kurz vor deinem dritten Geburtstag. Es war heiß, Hitze, die aufwühlt, die zermürbt. Rinnsale aus Salz. Es war ein Tag, der unentwegt fordert, schon in aller Frühe mit einer Wand aus heißer Luft vor der Tür steht und hineindringt. Ungefragt und ungebeten. Ungefragt kamen auch die Jungs. Die Elite des Dorfs. Deren Namen nicht zählen. Deren Stimmen nie mehr verhallen. Deren Lachen jede Nacht durch mein Zimmer dröhnt. Franzosenhure, Franzosenhure, Franzosenhure … Deren Gestank niemals mehr die Ritzen meines Zimmers verlassen wird. Schweiß und Bier. Die Male an meinen Armen, die blauen Flecken, die nie mehr vergehen werden. Aber ihre Tritte und Stöße konnten dir nichts anhaben. Du lebst. Nur darum geht es. Gestürzt sei ich, habe ich Papa erzählt. Bei einer Ärztin weit weg war ich. Anzeigen soll ich sie, hat sie gesagt. Mir die Adresse einer Selbsthilfegruppe gegeben. Aber hilft es, wenn man weiß, dass man nicht allein ist mit dem Irrsinn? Mir hat es nicht geholfen, im Gegenteil: All die grauenvollen Geschichten, viel grauenvoller als meine. Viel grauenvoller, weil ich zumindest geliebt habe.
    Mein liebes Kind, du kennst deinen Vater nicht. Er kennt dich nicht, weil er sterben musste bei einem sinnlosen Autounfall. Das Leben ist nicht fair. Es vernichtet die Guten. Aber ich habe ihn geliebt und er mich. Wir haben Pläne gemacht für ein Leben in der Picardie, woher er stammte. Meerglatte Weiten, goldfarbene Sanddünen, Ebbe und Flut, so viel Weite. Ganz anders als hier.
    Schaustellerhure hat Papa mal zu mir gesagt, Rittermätresse, du bist doch bloß eine von vielen. Heute die, morgen die. Eingesperrt hat er mich. Mir gedroht. Mich sogar einmal geohrfeigt. Er hat sich geirrt. Wir wollten nach der Show zu seinen Eltern gehen. Ihnen erzählen von unserem Glück. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Und ich habe mich allein auch nicht getraut. Aber du könntest eines schönen Tages hinfahren. Sie heißen Malloise aus Quend Plage.
    Denn du sollst wissen, wer du bist! Jeder hat ein Recht zu wissen, wer er ist. Wo er herkommt, um zu lernen, wohin er will. Man kann eine Reiseroute nur bestimmen, wenn man den Ausgangspunkt kennt. Man muss einen Ausgangspunkt haben, einen, den man auf der großen Weltkarte mit einem Fähnchen markieren kann. Fahr einmal hin in die Picardie. Du wirst sie spüren, diese grenzenlose Freiheit und Offenheit, mein liebes Kind. Du trägst sie in dir.
    Aber wo hätte ich mein Fähnchen hinstecken sollen? Hierhin, wo ich sie immer noch spüre? Wo Papa sich um Höflichkeit bemüht und doch jede Herzlichkeit vermeidet? Keine Umarmung. Wir umschleichen uns, unser Untergrund ist so fragil. Nicht fest genug für eine Flagge, nicht mal für das kleinste Fähnchen. Ich habe es versucht, mein liebes Kind. Aber da ist ein schwarzes Loch. Ein Kreisel, der immer schneller rotiert und mich hinabzieht. Es ist reizvoll, kopfüber in den Trichter zu springen. Durchwirbelt, immer schneller auf der Spirale des Vergessens.
    Verzeih mir. Papa wird alles für dich tun. Du bist sein Ein und Alles, auch wenn er das nicht zeigen kann. Dir hat er vergeben, nur mir nicht. Dabei hätten dein Vater und er gute Freunde werden können. Weil sie beide mutig waren und eingetreten sind für die Gerechtigkeit. Ich habe ihn geliebt, weil wir wortlos im Himmel waren. Weil wir unberührt waren von Gedanken. Weil er grenzenlos zärtlich war. Weil wir die Zukunft zusammen geträumt haben. Papa hätte das am Ende verstanden.
    Ich gehe jetzt, mein kleiner Liebling, es war nicht meine Zeit. Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort. Der da oben hat mich wohl übersehen. Der doch die Liebe predigt und die Liebenden so bestraft. Ich muss jetzt gehen, und du, du versprich mir, deinen Weg zu gehen. Nur deinen. Es gibt nur einen, der dir befehlen darf. Du selbst. Lass dich nicht klein machen von denen, die dir drohen. Größe kommt nur vom Herzen. Deine Mama!
    Gerhard schluckte. Er spürte einen Kloß im Hals. Isabella Holzer, die angehende Journalistin, die einen Preis gewonnen hatte. Eine begabte junge Frau, sie schrieb nicht schlecht. Zu pathetisch für seinen Geschmack. Er war wahrhaft keiner, der sich gut ausdrücken konnte, keiner, der Bücher las oder in wortreiche Problemfilme lief. Er konnte mit so was einfach nicht umgehen. Und er war immer noch der Meinung, dass Selbstmord feige war. Aber seine Gedanken gingen wild durcheinander. Dietrich und Veit, die waren in Isabellas Alter. Was, wenn Holzer ausgerechnet die beauftragt hatte,

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