Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
sagen?«, fragte Hrund.
Erlendur zuckte mit den Achseln. »Er schien bereit zu sein, über diese Dinge zu reden«, sagte er und fand, dass diese Aussage nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt war.
Ihm wäre nie eingefallen, Hrund zu erzählen, wie sehr er Ezra bedrängt hatte, bis er Kooperationsbereitschaft zeigte, und dass er nachträglich, nachdem er alles in Erfahrung gebracht hatte, beinahe bereute. Er war der Wahrheit auf die Spur gekommen, aber um was für einen Preis. Erlendur war alles andere als stolz auf das, was er unternommen hatte, um der Sache auf den Grund zu gehen. Er machte sich Sorgen, weil er Jakobs Grab geöffnet hatte, aber noch mehr Sorgen bereitete ihm sein Verhalten Ezra gegenüber. Er hatte den alten Mann unter Druck gesetzt, die ganze Wahrheit preiszugeben, und jetzt hatte er Mitleid mit ihm. Er wurde von einem Gefühl vorangetrieben, das er nur schwer kontrollieren konnte, denn es war ständig präsent und fordernd. Das Bedürfnis, das ans Licht zu bringen, was verborgen oder vergessen war, ließ ihm keine Ruhe. Warum hatte Ezra sein Geheimnis nicht in Frieden mit ins Grab nehmen dürfen? Er war weder ein hartgesottener Verbrecher, noch stellte er eine Gefahr für andere dar. Als sie sich voneinander verabschiedeten, hatte Ezra zu Erlendur gesagt, dass es für ihn keine Rolle spiele, was Erlendur mit diesen Informationen machen würde, aber Erlendur wusste es besser.
Nach der Enthüllung kam der Zorn.
»Man kann sich kaum ein entsetzlicheres Sterben vorstellen«, hatte Erlendur über Jakobs Tod gesagt.
»Glaubst du, ich wüsste das nicht?«, hatte Ezra hervorgestoßen. »Glaub mir, ich habe seitdem an jedem Tag meines Lebens daran denken müssen. Du brauchst mir da nichts vorzupredigen.«
Ezra drehte sich vom Fenster weg und starrte Erlendur grimmig an.
»Du kannst jetzt gehen«, sagte er. »Geh und lass mich in Ruhe. Ich möchte dich nie wiedersehen, ich möchte dich in der kurzen Zeit, die ich noch zu leben habe, nicht mehr wiedersehen müssen.«
»Ich kann gut verstehen …«
Erlendur konnte den Satz nicht zu Ende bringen.
»Raus mit dir!«, sagte Ezra mit erhobener Stimme. »Raus, sage ich! Tu endlich einmal, was ich sage. Verlass dieses Haus!«
Erlendur stand auf und ging zur Küchentür.
»Ich möchte nicht, dass wir im Streit auseinandergehen«, sagte er.
»Es interessiert mich nicht, was du möchtest«, sagte Ezra. »Lass mich in Ruhe!«
Das waren seine Abschiedsworte gewesen. Erlendur hatte sich zurückgezogen, auch wenn er ein ungutes Gefühl dabei hatte, den alten Mann in dieser Erregung zurückzulassen. Er wusste, dass er im Augenblick nichts für Ezra tun konnte. Er hatte vor, am nächsten Tag noch einmal bei ihm vorbeizufahren und nachzusehen, ob er sich wieder gefangen hatte.
Hrund brauchte eine ganze Weile, um das, was Erlendur ihr eröffnet hatte, voll und ganz zu begreifen.
»Und Jakob hat das vor Ezra zugegeben?«, fragte sie. »Dass er Matthildur umgebracht hat?«
Erlendur nickte.
»Wie?«
»Mit den bloßen Händen«, sagte Erlendur nach einigem Zögern. »Er hat Matthildur erwürgt.«
Hrund schlug instinktiv die Hände vor den Mund, als sie sich die Todesstunde ihrer Schwester vorstellte, so als wolle sie einen Schrei ersticken, der sich ihr über die Lippen drängte.
»Und warum hat der Mann das verschwiegen? Warum ist Ezra nicht zur Polizei gegangen?«
»Die Sache ist etwas komplizierter«, sagte Erlendur. »Jakob hatte Ezra in der Zange. Er hatte es wohl so eingefädelt, dass Ezra selber des Mordes verdächtigt werden würde, falls er mit Jakobs Geständnis an die Öffentlichkeit gegangen wäre. Zumindest hat er Ezra das gesagt. Dieses Risiko wollte Ezra nicht eingehen. Matthildur hätte er damit nicht zurückbekommen, und er war überzeugt, dass Jakob niemals jemandem verraten würde, wie er sich der Leiche entledigt hatte. Und das hat er auch bis zu seinem Ende nicht getan.«
»Was hat er mit der Leiche gemacht? Was hat Jakob mit Matthildurs Leiche gemacht?«, fragte Hrund.
»Er hat sich bis zum Ende geweigert, das zu verraten.«
»Niemand weiß es also?«
»Nein.«
»Ezra auch nicht?«
»Nein.«
»Du hast es nicht herausgefunden?«
»Nein.«
»Sie wird also nie gefunden werden?«
»Vermutlich nicht«, sagte Erlendur.
»Auf ewig verschollen?«
»Auf ewig verschollen.«
Hrund starrte lange auf ihren Schoß, während sie sich das, was Erlendur gesagt hatte, durch den Kopf gehen ließ. Sie war wie vor den Kopf
Weitere Kostenlose Bücher