Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
schwachen Schein der Gaslampe noch einigermaßen unversehrt aus.
Der Sargdeckel bestand aus vier breiten Holzplanken. Erlendur stach mit dem Spaten dazwischen und versuchte, ein Brett anzuheben. Das Holz gab sofort nach und zerbrach mit einem Ruck. Er schob den Spaten unter das nächste Brett und stemmte es ebenfalls hoch. Die Planken waren mit ein paar Nägeln befestigt worden, die sich sofort aus dem morschen Holz lösten. Nach kurzer Zeit war die Öffnung groß genug, um in den Sarg hineinsehen zu können. Er griff nach der Gaslampe, die er an den Rand des Grabes gestellt hatte, und leuchtete in den Sarg. Jakobs Gebeine schienen schon auf den ersten Blick in einer merkwürdigen Stellung zu liegen. Es kam ihm so vor, als sei der Kopf nach hinten gebogen, und der Unterkiefer war so weit vom Schädel entfernt, dass es den Anschein hatte, als sei der Mann mit weit geöffnetem Mund gestorben. Beide Schneidezähne im vorstehenden Oberkiefer fehlten. Die Hände lagen beim Kopf, die Finger waren zu Krallen gekrümmt. Er griff zu seiner Lampe, um die Finger besser beleuchten zu können. Soweit er sehen konnte, war der Mittelfinger der rechten Hand gebrochen. Erlendur beleuchtete die Beine, sie waren gespreizt und lagen nicht gerade nebeneinander.
Erlendur bückte sich und betastete die Sargwände im Schein der Laterne. Er wusste nicht, ob er irgendwelche Anzeichen für das finden konnte, was seiner Meinung nach in diesem Sarg geschehen sein musste.
Er richtete sich wieder auf und beleuchtete Jakobs sterbliche Überreste mit seiner Lampe. Seine Blicke blieben an den gekrümmten Fingern und dem gebrochenen Mittelfinger hängen. Er erinnerte sich daran, dass Jakob unter Klaustrophobie gelitten hatte.
Erlendur nahm das Brett vom Sargdeckel zur Hand, das beim Aufstemmen zerbrochen war. Er drehte das Gas an der Lampe auf, um mehr Licht zu haben, und beleuchtete den Teil des Bretts, der sich direkt über Jakobs Gesicht befunden hatte. Als er mit dem Finger darüber strich, spürte er ungewöhnliche Vertiefungen. Ansonsten war das Holz unversehrt und relativ glatt. Er besah sich diese Einkerbungen genauer und kam zu dem Schluss, dass einige davon von Zähnen stammen mussten.
Er beleuchtete noch einmal den gebrochenen Finger.
Erlendurs Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse, als er sich den grausamen Kampf vorstellte, der auf diesem kleinen Friedhof stattgefunden hatte. Das Kratzen, das völlig sinnlos gewesen war, die Schreie, die niemand gehört hatte, und die Luft, die nach und nach zur Neige gegangen war.
Dreiundvierzig
Knapp zwei Stunden später legte Erlendur die Schaufel zurück ins Auto und setzte sich verschwitzt und verdreckt hinters Steuer. Er hatte versucht, alle Spuren der Grabschändung so gut wie möglich zu tilgen, aber trotzdem war es unübersehbar, dass sich jemand an dem Grab zu schaffen gemacht hatte. Nachdem Erlendur es wieder zugeschaufelt hatte, war es etwas höher als die anderen, obwohl er nach besten Kräften versucht hatte, die Erde festzustampfen. Es würde eine Weile brauchen, bis sie sich wieder gesetzt hatte. Den kleinen Hügel bedeckte er mit den abgestochenen Grassoden. Er hoffte nur, dass sich in der nächsten Zeit niemand in diesen Teil des Friedhofs verirren würde, und wünschte den Dorfbewohnern Gesundheit und ein langes Leben. Er hoffte auch, dass es so bald wie möglich ordentlich schneien würde, damit Djúpivogur bis zum Frühjahr unter einer dicken Schneedecke begraben wäre. Er schämte sich zwar für das, was er getan hatte, und wollte um keinen Preis, dass irgendjemand davon erfuhr, doch er bereute es nicht.
Erlendur fuhr auf dem direkten Weg zurück nach Eskifjörður. So frühmorgens waren nur wenige Menschen unterwegs, und ihm waren auf der Strecke kaum Autos entgegengekommen. An einigen Stellen begannen sich Schneewehen auf der Straße zu bilden, aber sie behinderten den Verkehr nicht. Im Auto war ihm wieder wohlig warm geworden, und aus dem Radio erklang beruhigende Musik. Die grausige Geschichte, die er auf dem Friedhof ausgegraben hatte, ging ihm die ganze Zeit nicht aus dem Kopf.
Er traf auf dem verlassenen Hof ein, als es gerade wieder hell wurde, kroch in seinen Schlafsack, streckte sich erschöpft auf der Matratze aus und breitete zwei Decken über sich. Er ging nicht davon aus, dass er Probleme mit dem Einschlafen haben würde, denn nach der Schaufelei fühlte er sich ziemlich gerädert. Aus Angst davor, dass jemand ihn bei seiner Tätigkeit hätte entdecken
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