Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
über den Boden gekrochen, aber sie kamen nicht weit. Der dritte, der am längsten gelebt hatte, schaffte es bis zur verschlossenen Tür, wo sie ihn erfroren auffanden.«
Zweiundvierzig
Tief in Gedanken versunken machte sich Erlendur wieder auf den Weg nach Eskifjörður. Er war noch nicht weit gekommen, als er bremste und an den Straßenrand fuhr. Er überlegte lange, was zu tun war, rauchte und trank von dem Kaffee, den er sich am Morgen in die Thermoskanne gefüllt hatte. Etwas anderes hatte er an diesem Tag noch nicht zu sich genommen, doch er verspürte keinen Hunger, nur innere Unruhe und Spannung. Um sie loszuwerden, gab es im Grunde genommen nur eine Möglichkeit, doch dagegen sträubte sich alles in ihm. Sosehr er auch versuchte, nicht an diese Möglichkeit zu denken, er kam immer wieder zu dem gleichen Ergebnis. Er musste zwar die Interessen derjenigen im Auge behalten, die ihr Vertrauen in ihn gesetzt hatten, aber ihm ging es um klare Antworten. Auch wenn es in Ezras Darstellung um Erpressung und Mord gegangen war, gab es nicht den geringsten Grund, die örtlichen Behörden in seine Nachforschungen einzubeziehen. Wenn das Allgemeinwohl nicht gefährdet war, hatte Erlendur nie etwas dabei gefunden, gewisse Dinge auf sich beruhen zu lassen, auch wenn es sich um Verbrechen handelte. Und diesmal wollte er es unter allen Umständen vermeiden, seine Nachforschungen öffentlich zu machen, welche Konsequenzen das auch immer haben mochte. Schließlich handelte es sich ja auch nicht um eine offizielle Ermittlung. Aus purer Wissbegierde heraus und wegen seines speziellen Interesses an Vermisstenfällen hatte er mehr über die Vergangenheit gewisser Menschen in Erfahrung gebracht, als er je vorgehabt hatte. Er war nicht von sich aus einem Verbrechen auf die Spur gekommen, sondern das Verbrechen hatte ihn gefunden. Wäre er nicht sämtlichen Verdachtsmomenten und Gerüchten so hartnäckig nachgegangen, hätte sich nichts an der alten Geschichte von Matthildur, Jakob und Ezra geändert, und es hätte keine Unruhe gegeben – weder in seinem Inneren noch im Leben der anderen. Wenn Erlendur, um seinen Verdacht zu erhärten, das tun wollte, was er für unumgänglich hielt, würde er sämtliche Karten auf den Tisch legen und sich mit dem, was er wusste, an eine zuständige Behörde nach der anderen wenden müssen. Doch seine Erkenntnisse waren nur lückenhaft; sein Antrag würde Kommissionen und Richtern vorgelegt werden, er wäre gezwungen, ihn auf wer weiß wie vielen Sitzungen mit endlosem Hin und Her zu begründen, und das war etwas, wozu er nicht die geringste Lust verspürte. Es machte die Sache nicht besser, dass es seiner Meinung nach relativ unwahrscheinlich war, die Genehmigung für das zu erhalten, was er tun wollte, auch wenn er sich mit allem, was er wusste, an die Behörden wandte und der Antrag sämtliche Instanzen des Systems durchliefe.
So war er allmählich zu dem Ergebnis gekommen, dass er bei seinen Nachforschungen auf zwei Verbrechen gestoßen war, die sich zwar in zwei wesentlichen Aspekten voneinander unterschieden, aber dennoch miteinander verknüpft waren. Es stand außer Zweifel, dass das eine Verbrechen die Folge des anderen war. Der eine Fall baute einzig und allein auf den Aussagen von Ezra auf, da war eine Beweisführung schwierig. Kein anderer Zeuge konnte seine Darstellung bestätigen, es gab keine konkreten Beweise, es gab keine Leiche, da niemand wusste, wo sie zu finden war. In dem anderen Fall lagen im Unterschied dazu nicht nur keine Zeugenaussagen vor, sondern auch keinerlei Indizien dafür, dass ein Verbrechen begangen worden war, es gab nur einen schwachen Verdacht. In diesem Fall glaubte Erlendur jedoch zu wissen, wo sich die Leiche befand.
Jetzt ging es darum, an sie heranzukommen.
Er wendete und fuhr wieder in Richtung Djúpivogur. Auf der Straße war keinerlei Verkehr. Erlendur erinnerte sich, von einer Frau in Polen gelesen zu haben, die für tot erklärt und in einen Leichensack gesteckt worden war, wo sie aber wieder zu sich gekommen war. Statt ins Leichenschauhaus wurde sie auf die Intensivstation gebracht. Er wusste von H. C. Andersen, der darauf bestanden hatte, dass ihm nach dem Tod die Pulsadern aufgeschnitten würden, aus Angst davor, lebendig in einem Sarg aufzuwachen. Die Furcht vor dem Lebendigbegrabenwerden wurde in der Medizin als Taphephobie bezeichnet. Man sprach vom Lazarus-Syndrom, wenn jemand wieder aufwachte, nachdem man ihn für tot erklärt hatte. Es
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