Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
gab Fälle, wo Menschen auf dem Seziertisch des Pathologen wieder zum Leben erwacht waren.
Erlendur stellte den Wagen vor dem Friedhof in Djúpivogur ab und blickte eine Weile in Richtung des Dorfes, das friedlich in der Dunkelheit schlummerte. Er hatte seine Gaslampe mitgenommen, und eine Schaufel befand sich im Auto. Er war sich sicher, dass er auf dem kleinen Friedhof nicht lange brauchen würde, um Jakobs Grab zu finden. Er konnte sich keinen besseren Zeitpunkt vorstellen, dieses Vorhaben in Angriff zu nehmen, als ebendiese Nacht. Seine anfänglichen Zweifel, ob das, was er vorhatte, richtig war, machten ihm jetzt nicht mehr zu schaffen. Er war an einem Punkt angelangt, wo er sich nicht mehr von irgendwelchen Bedenken aufhalten lassen konnte.
In Djúpivogur hatte es noch kaum geschneit, im Südosten Islands war es fast den ganzen Herbst mild und trocken gewesen. Die Tatsache, dass noch kein Frost im Boden war, würde ihm die Arbeit sehr erleichtern. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Je eher er begann, desto früher würde er es hinter sich gebracht haben. Er musste vor Tagesanbruch fertig sein und so wenig Spuren wie möglich hinterlassen.
Er stieg aus, holte die Gaslampe und die Schaufel hinten aus dem Auto und betrat den Friedhof. Der Friedhof befand sich oberhalb der Ringstraße und konnte vom Ort aus nicht gesehen werden. Es war schon nach Mitternacht, Erlendur bereitete sich auf eine lange Nacht vor.
In der Ferne bellte irgendwo ein Hund, Erlendur hielt inne und lauschte, dann ging er weiter. Der Friedhof war von einem Eisenzaun umgeben. Über dem Friedhofseingang hing eine Glocke. Rechts vom Friedhof befand sich ein kleines Haus mit den Geräten für die Instandhaltung. Hohe, schöne Nadelbäume hielten Wache über den Gräbern. Nun zündete Erlendur die Gaslampe an. Die Grabstätten waren fast alle leicht erhöht und mit Kreuzen oder Grabsteinen gekennzeichnet. Die Jahreszahlen aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, nach denen er suchte, befanden sich weiter hinten auf dem Friedhof.
Er ging an den Gräbern entlang, beleuchtete die Grabsteine einen nach dem anderen, und bald gelangte er zu einem, der auf dem Grab lag und Jakobs Namen trug. Er schraubte die Helligkeit der Lampe so weit herunter, dass er gerade noch genug sehen konnte. Sorgfältig blickte er sich nach allen Seiten um. Lauschte auf Hundegebell. Und dann trieb er den Spaten in die lockere Erde.
Er hatte schon einmal eine Leiche ausgegraben, aber auf ganz andere Weise. Damals hatte er den vorschriftsmäßigen Behördenweg eingehalten, und ein kleiner Schaufelbagger hatte ein Grab auf einem Friedhof am Meer geöffnet, in dem sich der Sarg eines kleinen Mädchens befand, das an einer seltenen Krankheit gestorben war. Er hatte im Laufe der Zeit manchmal an sie denken müssen, genauso wie an all die anderen Fälle, mit denen er sich befasst hatte und die ihn, jeder auf seine eigene Weise, beeinflusst hatten. Sie waren ebenso zahlreich wie unterschiedlich gewesen, doch keiner von ihnen hatte ihn bei Nacht und Nebel mit einer Schaufel in der Hand auf einen Friedhof getrieben.
Erlendur stach zunächst den Rasen ab und stapelte die Grassoden vorsichtig neben dem Grab auf, damit er zum Schluss, nachdem er sich bis zum Sarg hinuntergegraben hatte, alles wieder ordentlich hinterlassen konnte. Der Boden bot keinen Widerstand, die Erde war weich und feucht und entsprechend leicht zu schaufeln. Eine Stunde arbeitete er in gleichmäßigem Tempo, dann legte er eine Pause ein, zündete sich eine Zigarette an und setzte sich auf den Stein am Nachbargrab.
Dann grub er wieder eine ganze Weile, bevor er sich ein weiteres Mal ausruhte und die nächste Zigarette anzündete. Die Thermoskanne gab noch eine halbe Tasse her. Inzwischen machten sich auch Hungergefühle bei ihm bemerkbar. Er war froh, dass sich der Mond hinter tief hängenden Wolken verbarg. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was er zu seiner Entschuldigung sagen könnte, falls ihn jemand in einem offenen Grab überraschte. Er schaufelte unablässig weiter, versuchte, es so einzurichten, dass das Loch nicht größer als unbedingt nötig wurde. Auf einmal stieß die Schaufel auf etwas Hölzernes, er hatte den Sarg erreicht. Das Grab war anscheinend sehr viel flacher, als er erwartet hatte. Nun verdoppelte er seine Anstrengungen, und nach kurzer Zeit stand er mit gespreizten Beinen über Jakobs Sarg und entfernte rasch die Erde vom Deckel. Der schlichte Sarg aus unlackiertem Holz sah im
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