Eisfieber - Roman
großen Doppelbetts geschlafen. Kit öffnete die Schubladen und fand eine Taschenlampe – wahrscheinlich für Stromausfälle – und einen Band von Prousts Gesammelten Werken – vermutlich gegen Schlaflosigkeit. Er überprüfte auch die Schubladen auf Mutters Bettseite, doch sie waren alle leer.
Die Suite bestand aus drei Räumen: zuerst das Schlafzimmer, dann das Ankleidezimmer und zum Schluss das Bad. Kit betrat das Ankleidezimmer, einen quadratischen Raum, der ringsum von Schränken gesäumt war. Einige waren weiß gestrichen, andere hatten Spiegeltüren. Draußen war es schon dämmerig, doch für Kits Vorhaben reichte das Licht noch aus, sodass er darauf verzichten konnte, die Lampen anzuknipsen.
Er öffnete die Tür zu dem Schrank, in dem Stanleys Anzüge untergebracht waren. Über einem Kleiderbügel hing das Jackett zu dem Anzug, den er gerade trug. Aus der Innentasche fingerte Kit eine große schwarze Lederbrieftasche. Sie war schon alt und abgewetzt und enthielt ein kleines Bündel Banknoten sowie mehrere Plastikkarten, eine nach der anderen in eine Reihe gesteckt. Eine davon war die Ausweiskarte für den Kreml.
»Bingo«, sagte Kit leise.
In diesem Augenblick öffnete sich nebenan die Schlafzimmertür.
Kit hatte die Tür zum Ankleidezimmer nicht geschlossen, sodass er sehen konnte, wie seine Schwester Miranda den Raum betrat. Sie trug einen orangefarbenen Wäschekorb aus Plastik.
Dort, wo er stand, nämlich vor dem geöffneten Schrank mit Vaters Anzügen, befand sich Kit eigentlich in Mirandas Blickrichtung, doch bei dem trüben Licht sah sie ihn nicht sofort. Geistesgegenwärtig versteckte er sich hinter der Zimmertür. Wenn er vorsichtig hinter der Tür hervorsah, konnte er Miranda im großen Schlafzimmerspiegel erkennen.
Seine Schwester schaltete das Licht ein und fing an, das Bett abzuziehen. So, wie es aussah, hatten sie und Olga einige von Loris Pflichten übernommen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu warten, dachte Kit.
Ein Anflug von Selbsthass überkam ihn: Da stehe ich heimlich hinter der Tür, ein Eindringling in meinem eigenen Elternhaus. Ich bestehle meinen Vater und verstecke mich vor meiner Schwester. Wie konnte es nur so weit kommen?
Die Antwort war glasklar: Sein Vater hatte ihn im Stich gelassen, hatte zu einem Zeitpunkt, als er seine Hilfe am dringendsten benötigte, kategorisch nein gesagt. Das war aller Übel Anfang.
Aber ich werde alle verlassen und ihnen nicht einmal sagen, wohin ich gehe. Ich fange in einem anderen Land ein neues Leben an, tauche im kleinstädtischen Milieu von Lucca unter, esse Tomaten und Pasta, trinke toskanischen Wein und spiele am Abend um geringe Einsätze Pinokel. Ich werde unauffällig sein wie eine Hintergrundfigur auf einem großen Gemälde, wie der zufällig vorbeikommende Passant, der den sterbenden Märtyrer keines Blickes würdigt. Endlich werde ich Frieden finden …
Während Miranda gerade das Bett mit frischen Laken bezog, betrat Hugo das Schlafzimmer.
Er hatte sich umgezogen, trug jetzt grüne Kordhosen und einen roten Pullover und sah darin aus wie ein Weihnachtskobold. Er schloss die Tür hinter sich. Kit zog die Brauen zusammen. Hatte Hugo irgendwelche Geheimnisse mit seiner Schwägerin?
»Was willst du, Hugo?«, fragte Miranda. Es klang argwöhnisch.
Hugo grinste sie mit Verschwörermiene an, sagte aber nur: »Ich dachte, ich kann dir vielleicht ein bisschen helfen.« Er ging ums Bett herum und fing an, das Laken festzustecken.
Kit stand noch immer hinter der Tür zum Ankleideraum, in der einen Hand Vaters Brieftasche, in der anderen die Chipkarte für den Kreml. Wenn er unentdeckt bleiben wollte, durfte er sich nicht rühren.
Miranda warf einen sauberen Kopfkissenbezug übers Bett. »Hier«, sagte sie.
Hugo stopfte das Kissen hinein. Gemeinsam streiften sie den Bettbezug über. »Mir kommt es vor, als hätten wir uns eine halbe Ewigkeit nicht gesehen«, sagte Hugo. »Ich vermisse dich.«
»Quatsch keinen Blödsinn!«, erwiderte Miranda kühl.
Kit konnte sich keinen Reim darauf machen, war aber irgendwie fasziniert von der Szene. Was ging hier vor?
Miranda glättete die Überdecke. Hugo ging um das Bett herum auf sie zu. Miranda nahm den Wäschekorb und hielt ihn wie einen Schutzschild vor sich. Hugo grinste sie unverschämt an und sagte: »Na, wie wär’s mit einem Küsschen? Um der alten Zeiten willen?«
Sie sprechen in Rätseln, dachte Kit. Was für »alte Zeiten« meint Hugo denn? Er und Olga waren seit fast
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