Eisfieber - Roman
kann. Aber Kit ist leider hinterhältig und schwach.«
Toni ging plötzlich auf, dass Stanley mit ihr sprach, wie er vermutlich mit Marta gesprochen hätte. Nach einem Familienstreit wie diesem wären die beiden zu Bett gegangen und hätten über die jeweilige Rolle ihrer Kinder diskutiert. Er vermisst seine Frau und macht mich zu seiner Ersatz-Vertrauten … Tonis anfängliche Begeisterung über seinen Anruf schwand, ja sie schlug sogar in Verärgerung um. Er hat nicht das Recht, mich so zu missbrauchen, das ist Ausbeutung, dachte sie. Außerdem muss ich langsam einmal nachsehen, was mit Mutter los ist …
Sie wollte es ihm gerade mitteilen, als er sagte: »Aber ich sollte Sie nicht mit all diesen Dingen belasten. Ich rufe aus einem ganz anderen Grund an.«
Das klingt schon eher wie der alte Stanley, dachte sie. Mutter wird schon noch ein paar Minuten allein zurechtkommen …
»Darf ich Sie in den Tagen nach Weihnachten einmal zum Abendessen einladen?«, fragte er.
Was soll denn das jetzt, dachte Toni und sagte: »Ja, natürlich dürfen Sie.« Was hatte das zu bedeuten?
»Sie wissen ja, wie wenig ich von Männern halte, die ihren weiblichen Angestellten Avancen machen. Sie bringen die Frauen damit in eine äußerst schwierige Lage. Wenn ich nein sage, denken sie, schadet das womöglich meiner Karriere.«
»Solche Befürchtungen sind mir fremd«, erwiderte Toni ein wenig steif. Sollte das heißen, dass die Einladung nicht als »Avance« zu verstehen war und sie sich keine Sorgen zu machen brauchte? Sie hatte das Gefühl, dass ihr die Atemluft knapp wurde, und musste sich anstrengen, normal zu klingen. »Es würde mich sehr freuen, mit Ihnen essen gehen zu können.«
»Mir ist unser Gespräch heute Morgen auf den Klippen nicht aus dem Kopf gegangen.«
Mir auch nicht, dachte sie.
»Ich habe da etwas zu Ihnen gesagt, was ich seither zutiefst bedauere.«
»Und was …« Jetzt blieb ihr wirklich fast die Luft weg. »Und was war das?«
»Dass ich Ihre Frage, ob ich mir vorstellen könnte, eine neue Familie zu gründen, schlankweg verneint habe.«
»Sie meinten das nicht so?«
»Ich habe das gesagt, weil ich … weil ich plötzlich Angst bekommen hatte. Seltsam, nicht wahr? Dass man in meinem Alter noch Angst hat …«
»Angst wovor?«
Nach langer Pause antwortete er: »Vor meinen Gefühlen.«
Toni hätte um ein Haar ihr Handy fallen lassen. Sie spürte, wie sie vom Hals aufwärts errötete. »Gefühlen …«, wiederholte sie.
»Wenn Ihnen dieses Gespräch furchtbar peinlich ist, brauchen Sie es mir bloß zu sagen. Ich werde nie wieder darauf zurückkommen.«
»Reden Sie weiter.«
»Als Sie erwähnten, dass Osborne Sie gebeten habe, mit ihm auszugehen, war mir klar, dass Sie nicht ewig Single bleiben würden, ja dass diese Phase möglicherweise bald zu Ende gehen wird … Aber bitte …« Er zögerte. »Bitte sagen sie es mir sofort, wenn Sie der Meinung sind, dass ich mich wie ein totaler Narr verhalte, und machen Sie diesem Elend ein Ende.«
»Nein …« Toni schluckte. Es fällt ihm extrem schwer, dachte sie, aber wahrscheinlich hat er seit vierzig Jahren kein solches Gespräch mehr mit einer Frau geführt. Ich muss ihm helfen, muss ihm klar und deutlich zu verstehen geben, dass ich mich nicht beleidigt fühle. »Nein«, sagte sie, »Sie verhalten sich nicht wie ein totaler Narr.«
»Ich hatte heute Vormittag den Eindruck, dass Sie mir … gewisse Sympathien entgegenbringen, und das machte mir Angst. Aber sagen Sie, ist es überhaupt richtig, dass ich Ihnen all dies erzähle? Ich wünschte, ich könnte Ihr Gesicht sehen.«
»Ich bin sehr froh«, sagte Toni mit leiser Stimme. »Ich bin sehr, sehr glücklich.«
»Wirklich?«
»Ja.«
»Wann kann ich Sie sehen? Es gibt noch viel, worüber ich mit Ihnen sprechen möchte.«
»Ich bin mit meiner Mutter unterwegs. Wir befinden uns gerade an einer Tankstelle, und in diesem Augenblick sehe ich, wie meine Mutter aus der Toilette kommt.« Toni stieg aus dem Wagen, das Telefon noch immer am Ohr. »Sprechen wir morgen Vormittag miteinander.«
»Bitte hängen Sie jetzt nicht auf. Es gibt noch so vieles zu sagen.«
Toni winkte ihrer Mutter zu und rief: »Hier! Hier bin ich!« Mutter hörte sie und drehte sich um. Toni hielt ihr die Beifahrertür auf, half ihr beim Einsteigen und sagte: »Ich beende gerade noch das Telefongespräch.«
»Wo sind Sie?«, fragte Stanley.
Toni schloss die Tür. »Nur etwa fünfzehn Kilometer westlich von Inverburn. Aber man
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