Eisige Schatten
auch freundlich. Er war ein wichtiger Mann in dieser Stadt, ein Mann, zu dem die Leute aufschauten. Und er war ein gewählter Beamter, was bedeutete, dass sein Leben der öffentlichen Prüfung unterworfen war.
Daran hatte er wahrscheinlich nicht gedacht.
Nein, es ergab einfach keinen Sinn. Es gab unzählige Gründe, warum sie ihn anziehend finden würde, aber nicht einen einzigen, der sein Interesse an ihr erklärte.
Außer vielleicht der Reiz des Neuen.
Cassie bedachte das mit all der Distanziertheit, die sie aufbringen konnte. Reiz des Neuen? Etwas völlig anderes als das, woran er gewöhnt war, und daher von Interesse? Eine Frau, die seine Schutzmauern als Erleichterung empfand, wo sie sich für die anderen Beziehungen als Problem erwiesen haben könnten? Sie nahm an, dass es möglich war, aber wenn er sie wegen etwas so Unwichtigem anziehend fand, hätte er doch sicherlich gewartet, bis die Bedrohung für seine Stadt vorbei war.
Er musste gewusst haben, dass sie in der Zwischenzeit nicht mit jemand anderem fortlaufen würde.
Cassie stand mit ihrem Kaffee am Küchenfenster und blickte hinaus auf die schöne, friedvolle Szenerie, sich nur allzu bewusst, dass ihr erwartungsvolles Gefühl wieder verschwunden war.
Zu Max, der sich eng neben ihr hielt, sagte sie: »Ich bringe es fertig, mir eine gute Stimmung schneller auszureden als jeder andere, den ich kenne.«
Max schlug mit der Rute gegen den Boden und schaute mit treuherzigem Blick zu ihr auf.
»Ich tue ihm nur leid. Oder er ist vielleicht einer jener Männer, die Spaß daran haben, wenn dünne, bleiche Frauen ihnen ständig bewusstlos vor die Füße fallen. Gibt ihnen das Gefühl, besonders machohaft zu sein oder so. Obwohl ich sagen würde, dass er das nicht nötig hat.«
Max jaulte, und Cassie kraulte ihn zwischen den Ohren.
»Ich muss aufhören, in seiner Gegenwart ohnmächtig zu werden. Das ist das zweite Mal, dass er mich auf den Armen getragen hat, und ich habe es wieder nicht mitbekommen. Eine Frau träumt ihr ganzes Leben lang davon, auf den starken Armen eines Mannes getragen zu werden, und wenn es passiert – zwei Mal –, ist sie ohnmächtig.«
Max leckte ihre Hand.
»Danke«, sagte sie trocken. »Ich weiß dein Mitgefühl zu schätzen. Doch die Wahrheit ist … ich weiß nicht, was die Wahrheit ist. Ich weiß nur, dass ich ungefähr einen Atemzug davon entfernt bin, mich seinetwegen zum Narren zu machen. Und das ängstigt mich zu Tode.«
Max stieß fest gegen ihre Hand, bat offensichtlich um mehr von diesem angenehmen Kraulen zwischen seinen Ohren. Cassie gehorchte.
»Aber willst du wissen, was das wirklich Traurige ist? Das Traurige ist, ich glaube nicht, dass diese Angst mich aufhalten wird. Ich glaube nicht, dass mich irgendwas aufhalten wird. Ich glaube, ich werde mich seinetwegen zum Narren machen.«
Was auch immer Max hätte antworten wollen, das Telefonklingeln schreckte sie beide auf und machte Cassies Geständnissen ein Ende. Sie nahm in der Küche ab, sagte Hallo und vernahm die unverwechselbare schroffe Stimme des ältlichen Anwalts ihrer Tante.
»Miss Neill?«
»Hallo, Mr McDaniel. Noch mehr Papiere zum Unterschreiben?«
»Ähm – nein, Miss Neill. Nein, die Testamentseröffnung ist erfolgreich abgeschlossen.« Philipp McDaniel räusperte sich. »Miss Neill, würde es Ihnen passen, wenn ich nach dem Lunch zu Ihnen hinauskomme? Es wird nicht lange dauern, aber wenn Sie ein paar Minuten für mich erübrigen könnten, wüsste ich das sehr zu schätzen.«
Cassie runzelte leicht die Stirn, obwohl sie nicht hätte sagen können, wieso. »Ich könnte zu Ihnen in die Kanzlei kommen, Mr McDaniel, wenn es wichtig ist. Damit Sie nicht den weiten Weg hier raus …«
»Ich versichere Ihnen, Miss Neill, ich würde es vorziehen, zu Ihnen zu kommen. Selbstverständlich nur, falls es Ihnen passt.«
»Natürlich. Aber worum geht es denn?«
Er gab mehrere vage Geräusche von sich und sagte dann: »Bloß um eine kleine Sache – nun ja, darüber würde ich lieber persönlich mit Ihnen sprechen, Miss Neill. Sollen wir sagen, gegen halb drei?«
»In Ordnung, gut. Bis dann.«
Cassie hängte ein und schaute zu Max. »Tja, was hältst du davon?«
Max drängte sich näher an sie und stupste gegen ihre Hand, bat um weiteres Kraulen.
Deanna Ramsay hasste es, in einer kleinen Stadt zu leben. Sie hasste es, den Bergen so nahe zu sein. Sie hasste den Süden. Ja, eigentlich hasste sie ihr gesamtes Leben. Vor allem jetzt, wo irgendein
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