Eisiger Dienstag: Thriller - Ein neuer Fall für Frieda Klein 2 (German Edition)
Pfad. Dabei fiel ihr das Huhn in den Dreck. Schnell hob sie es auf und sprintete keuchend los, die Plastiktüte noch zwischen den Zähnen. Bitte, bitte, bitte, bitte . Sie zwängte sich durch eine dicke, von Gestrüpp überwucherte Hecke. Brennnesseln streiften ihre Hände und dann, als sie in die Hocke ging, auch ihren Hals und ihr Gesicht. Auf dem Deck des Bootes stand eine Gestalt und spähte in die Nacht hinaus. Eine Taschenlampe flammte auf. Von ihrem Versteck aus konnte sie sehen, wie der Lichtstrahl über das Wasser glitt, über die Häuserruinen am anderen Ufer, den Pfad, die Hecke. Als sie das Licht auf ihrem Gesicht spürte, schloss sie die Augen und hielt die Luft an.
Die Lampe ging aus, die Gestalt verschwand. Sie wartete. Ihr Knöchel pochte schmerzhaft. Sie legte die Tüte mit dem Brot vor sich hin. Der Geruch des Huhns stieg ihr in die Nase. Sie empfand einen Anflug von Übelkeit, aber auch Gier. Sie wartete noch eine Weile – wie lange, wusste sie selbst nicht –, bis sie schließlich zurück auf den Weg kroch und zu ihrem Boot humpelte, ihre Beute fest an sich gepresst.
Sie hatte es geschafft. Jetzt hatte sie etwas zu essen und konnte sich wieder stärken – zumindest genug, um das durchzustehen. Was danach war, spielte keine Rolle. Hauptsache, sie hatte das Versprechen gehalten, das sie ihm gegeben hatte. Sie kaute ein weiteres Stück von dem schmutzigen Huhn. Seine vertrauensvolle Soldatin, seine Dienerin, seine Geliebte.
43
F rieda fuhr von King’s Cross aus mit dem Schnellzug, der von London bis nach Cambridge keine fünfzig Minuten brauchte, so dass ihr gar keine Zeit blieb, es sich anders zu überlegen. Durchs Fenster beobachtete sie, wie London sich langsam auflöste – in Wiesen und Wasserstraßen und die Gärten von Häusern, deren Vorderseiten man vom Zug aus nicht sah. Frieda entdeckte neugeborene Lämmer auf manchen der Wiesen und Hänge voller Narzissen. Sie versuchte sich auf die vorbeirauschende Landschaft zu konzentrieren und nicht an das zu denken, was vor ihr lag. Ihr Mund fühlte sich trocken an, und ihr Herz schlug schneller als sonst. Als sie schließlich in Cambridge eintraf, suchte sie erst einmal die Damentoilette auf, um sich zu vergewissern, dass sie akzeptabel aussah. Das Gesicht, das ihr aus dem fleckigen Spiegel über dem abgeschlagenen Waschbecken entgegenstarrte, verriet nichts von ihrer inneren Unruhe. Sie trug einen dunkelgrauen Hosenanzug und hatte das Haar streng zurückgebunden. Sie wirkte professionell, kompetent und unnachgiebig.
Sie hätte es vorgezogen, sich an einem öffentlichen Ort mit ihm zu treffen, am liebsten in seinem Büro, zwischen Computern und fremden Menschen, doch er hatte ihr erklärt, er arbeite an dem Tag zu Hause: Wenn sie ihn sehen wolle, müsse sie zu ihm kommen. Sein Territorium, seine Bedingungen. Er hatte ihr erst die Adresse nennen müssen, weil sie noch nie dort gewesen war. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartete – ein Haus in der Stadt oder außerhalb, groß oder klein, alt oder neu. Wie sich nun herausstellte, lag es etwa zehn Taximinuten außerhalb, in einem Vorort, der auf geschmackvolle Art ländlich wirkte, so dass man das Gefühl hatte, schon halb auf dem Land zu sein. Das Haus war groß, wenn auch nicht ganz so groß wie manche andere in dem Ort, und schon etwas älter. Es hatte ein rotes Ziegeldach, Giebelfenster und ein Vordach über dem Eingang. Die Zufahrt schmückte eine Trauerweide, deren Äste fast bis auf den gekiesten Boden herabhingen. Frieda musste zugeben, dass es schön war. Wie sollte es auch anders sein? Er hatte schon immer einen guten Geschmack gehabt – oder zumindest einen ähnlichen wie sie. Egal, wie weit man vor seiner Familie davonläuft, dachte Frieda, oder wie sehr man auch versucht, sie aus seinem Leben zu verbannen, man kann ihr nicht entkommen.
Dass der Mann, der auf Friedas Läuten hin die Tür öffnete, ihr Bruder war, erkannte man schon auf den ersten Blick. Er hatte eine schlanke Figur und dunkles Haar, auch wenn es an den Schläfen bereits silbrig schimmerte, dunkle Augen, hohe Wangenknochen und eine Art, seine Schultern zurückzuziehen, die Frieda von sich selbst kannte. Natürlich war er seit ihrer letzten Begegnung älter geworden. Sein Gesicht hatte sich zu einem Ausdruck verhärtet, der zornig und zugleich auf eine spöttische Weise amüsiert wirkte. Sie hoffte, dass sie nicht auch so aussah. Er trug ein graues Hemd und eine dunkle Hose. Frieda beschlich das schreckliche
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