Eisiger Dienstag: Thriller - Ein neuer Fall für Frieda Klein 2 (German Edition)
ihre Eltern geschrieben und sich ihre Vorlieben und Abneigungen notiert – alle ihre Hobbys, jeden wohltätigen Zweck, für den sie Geld spendeten, sämtliche Veranstaltungen, die sie besuchten. Sogar für ihre Schwestern hatte er sich diese ganze Mühe gemacht. Zusätzlich hatte er einen Plan von Haus und Garten gezeichnet, einschließlich des Gartenhäuschens, in dem ihre Mutter manchmal Cello spielte und ihr Vater seine Farben aufbewahrte. Ihr war gar nicht klar gewesen, wie genau er ihr zugehört hatte. Dass er selbst dann, wenn er nach außen hin distanziert wirkte, an sie gedacht und auf sie geschaut hatte, trieb ihr vor Rührung die Tränen in die Augen. Er hatte diese Aufzeichnungen als Geschenk für sie hinterlassen, dachte Beth, und sich dabei solche Mühe gegeben – aber warum? Sie starrte auf die Worte hinunter, bis in ihren Augen Lichter blitzten und ihr schwindlig wurde. Sie wusste, dass sie sich etwas zu essen suchen musste, um sich zu stärken.
Als sie durch die Luke kroch, schürfte sie sich an der Metalleinfassung die Wange auf. Sie war schon ziemlich lange nicht mehr draußen gewesen. Ihr Körper fühlte sich steif an, als wäre er in einer krummen Haltung erstarrt. Sie zwang sich, eine Weile auf der Stelle zu laufen und zu hüpfen. Dabei spürte sie einen stechenden Schmerz in der Brust und im Kopf ein Pochen, als spränge in ihrem Schädel ein Stein auf und ab – wie die Tennisbälle, die sie früher auf ihrem Schläger hüpfen ließ und dabei mitzählte, weil sie ihren Rekord vom vorigen Mal übertreffen wollte. Wie lange war das schon her? Für einen Moment sah sie ihre runden Kinderknie vor sich und die gelbe Sonne, die wie ein leuchtender Eidotter am Himmel hing. Jetzt aber war alles um sie herum trübe und finster und zerrissen. Das Wasser glänzte ölig, und beim Gehen schlitterten ihre Füße über den rutschigen Pfad.
Sie erreichte ein Boot, von dem sie wusste, dass es bewohnt war. Sie wurde langsam leichtsinnig, aber vielleicht spielte das keine so große Rolle mehr, weil er ja nicht mehr kam und sowieso alles vorbei war – bis auf die eine Sache, die sie in seinem Namen tun musste. In seinem Namen. Als seine Jüngerin.
Es brannte kein Licht, das Boot wirkte verlassen, aber auf dem Deck waren Fahrräder festgekettet. Als sie sich über die Holzplanken schob, klirrten diese Ketten. Einen Augenblick blieb sie reglos liegen, den Körper flach auf das eisige, feuchte Holz gepresst, doch zum Glück kam niemand. Sie zerrte an der Luke herum, bis sie schließlich ächzend aufging, und ließ sich in das gemütliche Innere des Bootes gleiten. Es sah dort viel, viel schöner aus als bei ihr: Es war warm, sauber und roch gut nach gewaschenen Körpern und frischem Essen. Man konnte es fast ein Zuhause nennen. Ihr Boot konnte man nicht so nennen. Ihres war ein Loch, ein feuchtkaltes, scheußliches Loch. Von draußen fiel noch ein Rest von Helligkeit herein, so dass sie die Konturen der Einrichtung erkennen konnte und den Kühlschrank rasch fand. Sie zog die Tür auf. Milch. Sie nahm sie heraus. Butter. Zwei Vollkornbrötchen und ein halbes Huhn unter Schrumpfverpackung. Ein halbes Huhn, mit goldener Haut und rundlichen Schenkeln. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Sie zog die Plastikfolie hoch, riss ein Stück Fleisch ab, stopfte es sich in den Mund und schluckte es fast ohne zu kauen hinunter. Obwohl ihr das Blut in den Ohren dröhnte und sie einen Moment das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen, riss sie ein weiteres Stück ab und schob es gleich hinterher. Ihre zerschnittene Lippe schmerzte, ihr Hals brannte, und ihr Magen rebellierte.
Plötzlich drang aus dem vorderen Teil des Bootes ein Geräusch durch die kleine, geschlossene Tür. Sie erstarrte, während gleichzeitig eine Welle der Angst durch ihren Körper flutete. Jemand summte. Da war jemand, nur ein paar Schritte entfernt. Wahrscheinlich auf dem Klo. Gleich würde er oder sie herauskommen und sie ertappen, den Mund voller Huhn. Die Polizei würde kommen. Alles wäre aus. Vermasselt. Endgültig aus und vorbei.
Sie schnappte sich das Huhn und die Milch, stopfte die Butterpackung in ihre Tasche, nahm die Plastiktüte mit den Brötchen zwischen die Zähne und versuchte, einhändig durch die Luke zu klettern. Ihr Schnürsenkel blieb in der Ecke hängen. Mit einer heftigen Bewegung befreite sie sich. Das Summen hörte schlagartig auf. Sie hievte sich hinaus ins Freie, stolperte über das Holzdeck und sprang hinüber auf den
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